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Weg von der Wohlfühlmusik

Das Attentat auf Martin Luther King am 4. April 1968 hat nicht nur politische Folgen gehabt. Die durch den Mord ausgelösten gesellschaftlichen Erschütterungen erfassten auch die US-Popkultur. Der bis dahin vorherrschende Soul politisierte sich, der radikalere Funk begann, den Ton anzugeben.

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Labels wie Atlantic, Goldwax, Stax und Volt sowie Motown hatten den Soul ab den 1950er Jahren auch in der weißen US-Bevölkerung populär gemacht. Der kommerzielle Erfolg stärkte das schwarze Selbstbewusstsein. Atlantic-Gründer Ahmet Ertegün sah gar einen Zusammenhang zwischen der Musik und dem verstärkten Kampf der Afroamerikaner für Gleichberechtigung: „Soul-Texte, Soul-Musik und die Bürgerrechtsbewegung sind ungefähr zur selben Zeit entstanden. Gut möglich, dass sie sich beeinflusst haben.“

Weltliche Themen im geistlichen Gewand

Vor allem die Künstlerinnen und Künstler der in der Industriestadt Detroit ansässigen Motown Record Company - Diana Ross und The Supremes, Stevie Wonder, Marvin Gaye oder die Temptations - konnten auf dem Massenmarkt reüssieren. Im Süden der USA stiegen indes Aretha Franklin und Otis Redding zur „Königin“ und zum „König“ des Soul auf. Mit ihrer Version von Reddings Song „Respect“ landete Franklin 1967 einen Welterfolg, der zur Hymne der US-Bürgerrechtsbewegung wurde.

Die damals 25-Jährige veredelte Reddings’ Rhythm-and-Blues-lastiges Original mit Gospelelementen. Die Mischung aus Kirchen- und Populärmusik war es auch, die den Soul musikalisch prägte. Oder, wie es die „Zeit“ einmal ausdrückte: „Soul als musikalisches Genre war entstanden, als Gospelsänger es wagten, von weltlichen Dingen im Gewand der geistlichen Musik zu erzählen: als mit ,love‘ nicht mehr die Liebe zu Gott, sondern die zu einer Frau, zu einem Mann gemeint war, als die religiöse Ekstase in eine erotische umschlug und sich die Kirchenmusik mit weltlichen Stilen wie Rhythm and Blues, Jazz und Country vermischte.“

1967 neigte sich die Ära des klassischen Soul bereits ihrem Ende zu. Und auch Kings Stern war im Sinken: Radikale Bewegungen wie die Black Panther Party forderten King zunehmend heraus und stellten sich gegen den von ihm propagierten Weg des gewaltfreien zivilen Ungehorsams. Als der Friedensnobelpreisträger am 4. April auf dem Balkon des Lorraine-Motels in Memphis, Tennessee, erschossen wurde, erfasste eine Welle der Gewalt die USA.

„Ein Zwerg, der aufrecht steht“

King hatte bereits zu Lebzeiten Unterstützung von berühmten Musikerinnen und Musikern wie Pops Staples, Patriarch der Gospelgruppe The Staples Singers, erhalten. Nina Simone, die ebenfalls mit King befreundet war, widmete ihm den Song „Why? (The King Of Love Is Dead)“. Kings Tod verstärkte die sozialkritischen Tendenzen in den Songs der berühmten Soul-Bands noch weiter. Die Wohlfühlmusik politisierte sich. Die Temptations etwa, spezialisiert auf Herzschmerzsongs, machten im 1969 veröffentlichten Album „Cloud Nine“ die Armut und Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung zum Thema.

Diana Ross & the Supremes

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Diana Ross und die Supremes: „Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!“

Im selben Jahr brachte die aus schwarzen und weißen Musikern bestehende Band Sly and the Family Stone den Song „Stand“ heraus. „Da ist ein Zwerg, der aufrecht steht. Und der Riese neben ihm wird fallen“, heißt es darin. Diana Ross, Leadsängerin der Supremes, die auf Kings Begräbnis auftrat, verwendete Kings legendäres Zitat „Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!“ jahrelang auf ihren Konzerten.

Marvin Gaye

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Marvin Gaye - der Motown-Star stellte King in eine Reihe mit anderen Größen der US-Politik

Auch Marvin Gaye besang den Bürgerrechtler: In seinem 1970 erschienenen Song „Abraham, Martin and John“ stellte er ihn in eine Reihe mit den ebenfalls ermordeten John F. und Robert Kennedy sowie Abraham Lincoln, die sich allesamt für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hatten. 1971 veröffentlichte er das Album „What’s Going On“, auf dem er den Vietnam-Krieg, Umweltschutz und Korruption thematisierte und das zu einem der bekanntesten Soul-Alben aller Zeiten wurde.

Der Funk übernimmt

Musikalisch übernahm ab Ende der 1960er der Funk langsam, aber sicher das Kommando. Statt der Melodie wurde der Rhythmus ins Zentrum des Musik gerückt. Die hypnotische Wirkung der Songs versetzte das Publikum in Ekstase, ihr repetitiver Charakter bot Sängerinnen und Sängern den Platz, ihre Botschaften anzubringen. Vorreiter und Aushängeschild der Bewegung war James Brown. „Erdig“, „schmutzig“, „erregt“ - die Bedeutungen des Begriffs „funky“ spiegeln sich in der Musik des begnadeten Entertainers perfekt wider.

James Brown rettet Boston

Am Tag nach Kings Ermordung trugen Browns Einsatz und sein Gespür im Umgang mit den Massen wesentlich dazu bei, dass der US-Großstadt Boston eine zweite Krawallnacht erspart blieb. Nach einigem Hin und Her spielte Brown ein seit Monaten geplantes Konzert im Boston Garden. Der damalige Bürgermeister Kevin White und der einzige schwarze Stadtrat Tom Atkins überzeugten einen lokalen TV-Sender, die Show live zu übertragen.

James Brown

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James Brown: Am 5. April 1968 bewahrte er Boston vor einer zweiten Krawallnacht

Und doch wäre der Auftritt beinahe nicht zustande gekommen. Nicht wegen Rassenunruhen, sondern wegen finanzieller Interessen Browns. Viele Fans wollten ihre Karten zurückgeben, als sie von der TV-Übertragung erfuhren. Erst als sich White bereiterklärte, den Sänger mit 60.000 Dollar zu entschädigen, sagte Brown zu, das Konzert zu spielen.

Die Show war nach Meinung von Beobachtern eine der besten, die Brown je gespielt hat. Und selbst als einige Jugendliche gegen Ende des Konzerts die Bühne entern wollten und die Polizei sie gewaltsam zurückdrängen wollte, behielt der Entertainer einen kühlen Kopf: „Es ist in Ordnung“, habe er den Beamten gesagt, schrieb Brown später in seiner Autobiografie, „ich möchte ihnen die Hände schütteln.“ Kurz danach hätten sie die Bühne verlassen und seien nach Hause geeilt, um sich die Wiederholung der Show im Fernsehen anzusehen.

Das politische Gespür verloren

Das Gespür, das Brown an jenem Abend in Boston zeigte, sollte ihn schon bald verlassen. Politisch begann Brown zunehmend, zwischen den unterschiedlichen Lagern zu irrlichtern. Er unterstützte den demokratischen Präsidentschaftswerber Hubert Humphreys ebenso wie den Republikaner Richard Nixon.

Mit Auftritten vor den in Vietnam stationierten US-Soldaten zog er die Kritik der Kriegsgegner auf sich. Noch schwerer wog für seine Kritiker aber, dass er „Say It Loud - I’m Black and I’m Proud“ (1968) aus seinem Repertoire strich, aus Angst, der Song sei zu „wütend und militant“.

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