Der unerwartete Sieger
Es hat einigen Trubel letzten November im Pariser Restaurant Drouant gegeben, als man den Träger des Prix Goncourts, Frankreichs höchsten Literaturpreises, nannte. Der Preis ging an den Autor und Filmemacher Eric Vuillard, der erst im dritten Wahlgang als Sieger hervorging - mit nur 6:4 Stimmen der zehnköpfigen Jury. Ausgezeichnet wurde nicht ein Roman, sondern eine Form von historischem Bericht, der in gerade mal 120 Seiten alle Spielformen des Erzählens auslotete.
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Vuillard hatte mit seinem Text „L’Ordre du jour“ ein komprimiertes, gerade mal 120-seitiges Werk geschaffen, das die Hintergründe der Machtergreifung Hitlers und über weite Strecken das Vorspiel des „Anschlusses“ von Österreich an Hitler-Deutschland ausleuchtet.
Vuillards Text beginnt mit den Kulissen eines historischen Tags, dem 20. Februar 1933, als die 24 wichtigsten deutschen Wirtschaftsbosse, von Krupp bis Quant, von Opel bis von Schnizler, bei Hermann Goering, dem Präsidenten des de facto nicht mehr existierenden Reichstags, vorsprechen und dort von Hitler empfangen werden. Alle werden sich an diesem Tag zur Finanzierung der nationalsozialistischen Bewegung und des kommenden Wahlkampfs im März 1933 verpflichten.
Der Großteil von Vuillards dichter Erzählung handelt aber von Kulissen, von Randerscheinungen und Hintergründen, leuchtet die kommende Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland aus - und widmet sich mit genauem Blick der Schwäche, ja Feigheit des österreichischen Kanzlers Kurt Schuschnigg – inklusive dessen Audienz bei Hitler auf dem Obersalzberg.
Die Grenzen und Erweiterungen des Romans
„Vuillard hat mit seinem bisherigen Werk und dem preisgekrönten Buch jetzt gezeigt, dass die historische Erzählung auch eine vollwertige literarische Gattung sein kann“, meinte der Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Lire“, Baptiste Liger. Vuillard erforsche in seinem Werk immer wieder die Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes.
Die Szene in seinem jetzt preigekrönten Werk mit den deutschen Industriellen bei Hitler sei atemberaubend, so Liger, der zugleich auf eine andere Passage verweist, die die defekten Panzer der deutschen Armee beim Einmarsch nach Österreich in den Blick nehme.

France 5
Am Fenster über dem Pariser Restaurant Drouant darf sich der Gewinner des Prix Goncourts zeigen. Dass es heuer Eric Vuillard war, gilt nach wie vor als stille Sensation.
Die Feigheit der Eliten
„L’Ordre du jour“ ist auch eine Erzählung über die Feigheit der internationalen Eliten angesichts einer heraufziehenden Gefahr für die Menschheit. Besonders die damalige Politik in Großbritannien und Frankreich erscheint dank der vom Autor gelieferten kleinen Details als geradezu erbärmlich. Angst, Opportunismus und Lethargie in der Welt der hohen Diplomatie und in den Amtssitzen der angeblich so Mächtigen werden mit Hilfe einer Reihe von Randereignissen plastisch gezeichnet.
„Es geht um die faulen Kompromisse, um das Abgleiten ins Unzulässige, darum, wie eine ganze Gesellschaft und voran ihre Eliten sich nach und nach kompromittieren, als seien sie sich des Ganzen einfach nicht bewusst.“ Mit diesen Worten versuchte der Autor nach der Preisverkündung eine kurze Skizze zu den Intentionen seines jüngsten Werkes zu geben.
Triumpf für Actes Sud
Es war 2017 wieder einmal eine Goncourt-Preisverleihung, bei der erneut nicht die klassischen, großen Pariser Verlage Gallimard, Grasset oder Seuil, sondern das im südfranzösischen Arles angesiedelte Verlagshaus Actes Sud ausgezeichnet wurde. Bis zum Sommer wurde der Verlag von der derzeitigen französischen Kulturministerin Francoise Nyssen geleitet. Bekannt ist Actes Sud auch durch die Herausgabe französischer Übersetzungen österreichischer Autorinnen und Autoren.
Überblendete Geschichtserzählung
Der im November gleichzeitig verliehene Renaudot–Preis ging ebenfalls an ein Werk, das die Zeit des Nationalsozialismus zum Thema macht. „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Olivier Guez präsentiert einen Roman, der historische Ereignisse mit der Vorstellungswelt Josef Mengeles überblendet. Thematisiert wird darin aber auch die Furcht des „Todesengels von Auschwitz“ vor dem israelischen Geheimdienst Mossad und den Ermittlern der deutschen Generalstaatsanwaltschaft.
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