Themenüberblick

„Unverzeihlicher Regelbruch“

Großbritannien macht den russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich für den Giftanschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal und seine Tochter verantwortlich. Es sei „äußerst wahrscheinlich“, dass es Putins Entscheidung gewesen sei, den Einsatz des Nervengifts anzuordnen, sagte Außenminister Boris Johnson am Freitag. Der Kreml reagierte mit Empörung.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

„Jegliche Erwähnung von oder in Bezug zu unserem Präsidenten in diesem Zusammenhang ist schockierend und ein unverzeihlicher Bruch diplomatischer Regeln und anständigen Benehmens“, sagte Kremlsprecher Dimitri Peskow laut Nachrichtenagentur TASS. Russland weist jede Verantwortung für den Anschlag zurück.

Britischer Botschafter erneut ins Ministerium zitiert

Der Botschafter Laurie Bristow werde noch am Samstag ins russische Außenministerium einbestellt, zitierte die russische Nachrichtenagentur TASS die Behörde. Das bereits zum zweiten Mal: Bristow war bereits am Dienstag einbestellt worden.

Putin-Matroschka-Puppen

APA/AFP/Alexander Nemenov

An diesem Sonntag wird Putin erneut zum russischen Präsidenten gewählt werden

Je 23 Diplomaten ausgewiesen

Johnson brachte den russischen Präsidenten direkt mit dem Giftanschlag auf Skripal und seine Tochter am 4. März in Salisbury südwestlich von London in Verbindung. „Wir halten es für überaus wahrscheinlich, dass es seine Entscheidung war“, sagte Johnson. Deswegen stünde London im Konflikt mit „Putins Kreml“. Peskow wies das zurück und wiederholte stattdessen, dass „Russland nichts mit dieser Geschichte zu tun hat“.

Doch Russland sieht sich nach dem Giftanschlag wachsendem internationalen Druck ausgesetzt. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA machen Moskau für den Vorfall verantwortlich. London hatte am Mittwoch als Reaktion auf den Giftanschlag die Ausweisung von 23 russischen Diplomaten beschlossen - Moskaus Reaktion darauf folgte am Samstag: Auch Russland wies 23 britische Diplomaten aus.

Gegenmaßnahmen „jede Minute“ möglich

Russlands Außenminister Sergej Lawrow bekräftigte, dass sein Land als Reaktion darauf ebenfalls mit Ausweisungen reagieren werde. „Natürlich werden wir das machen“, sagte Lawrow. Kremlsprecher Peskow sagte, die Gegenmaßnahmen könnten „jede Minute“ kommen. Ob Moskau noch vor der Präsidentschaftswahl am Sonntag reagieren werde, ließ er jedoch offen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte inzwischen vor einer Isolierung Russlands. „Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg, wir wollen keinen neuen Rüstungswettlauf“, sagte Stoltenberg dem britischen Sender BBC. „Russland ist unser Nachbar, deswegen müssen wir uns weiter für verbesserte Beziehungen zu Russland einsetzen.“ Stoltenberg wiederholte allerdings auch, dass er nicht an den Schlussfolgerungen der britischen Regierung in dem Fall zweifle.

Einschätzungen aus London und Moskau

ORF-Russland-Korrespondentin Carola Schneider analysiert die Abwehrstrategien des Kremls. Cornelia Primosch in London erklärt, dass die britische Regierung über weitere Sanktionen nachdenkt.

Außenminister Johnson kündigte in einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“) an, internationalen Fachleuten eine Untersuchung des bei dem Anschlag eingesetzten Nervengifts ermöglichen zu wollen. Polizei und Regierung würden daran arbeiten, der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) „die Möglichkeit zu geben, unsere Analyse von unabhängiger Seite zu überprüfen“, schrieb Johnson.

Kam das Gift im Koffer?

Das für den Anschlag auf Skripal verwendete Nervengift könnte nach einem Medienbericht im Koffer seiner Tochter versteckt gewesen sein. Davon gingen Geheimdienstkreise aus, berichtete die britische Zeitung „The Daily Telegraph“ ohne eindeutige Quelle. Die extrem gefährliche Substanz Nowitschok sei bei einem Aufenthalt von Julia Skripal in Moskau heimlich in ihrem Koffer deponiert worden - in einem Kleidungsstück, einem Kosmetikprodukt oder einem Geschenk. Als die Tochter anschließend den Vater in England besucht habe, soll sie das Gift dem Bericht zufolge unwissentlich freigesetzt haben. Skripal und seine Tochter kämpfen seit knapp zwei Wochen in einer Klinik um ihr Leben. Sie waren am 4. März bewusstlos auf einer Parkbank in der südenglischen Stadt Salisbury entdeckt worden.

Geschäftsmann Gluschkow wurde ermordet

Für neue Schlagzeilen sorgte am Freitag auch der mysteriöse Tod des russischen Geschäftsmannes Nikolai Gluschkow in seinem Londoner Haus. Die britische Polizei leitete Mordermittlungen ein - die Obduktion habe ergeben, dass der 68-Jährige durch „Druckausübung auf das Genick“ gestorben sei. Die genauen Todesumstände seien aber noch unklar. Bisher gebe es keine Hinweise auf eine Verbindung zum Giftanschlag auf Skripal.

Der russische Exilant, der in Großbritannien Asyl erhalten hatte, war Anfang der Woche tot in seinem Haus in London aufgefunden worden. Gluschkow war ein früherer Geschäftspartner des Unternehmers und Kreml-Kritikers Boris Beresowski, der 2013 unter ungeklärten Umständen nahe London gestorben war. Auch die russischen Behörden leiteten am Freitag Mordermittlungen zum Fall Gluschkow ein. Eingeleitet wurden zudem Ermittlungen wegen „versuchter Ermordung“ von Skripals Tochter Julia.

Frage nach den Motiven

Aus Sicht des Russland-Experten Alexander Dubowy kann eine russische Beteiligung an dem jüngsten Giftangriff derzeit „weder mit Sicherheit bejaht noch mit Sicherheit verneint“ werden. Für ihn stellt sich jedoch die Frage nach den Motiven: „Russland scheint weder unmittelbare noch mittelbare Vorteile aus dem Angriff auf Sergej Skripal zu ziehen“, so Dubowy. Die der breiten Öffentlichkeit bisher bekannt gewordenen Vorwürfe führten jedenfalls „keine stichhaltigen Beweise einer russischen Involvierung“ an.

Links: