Minimalismus mit Herz und Hirn
Das Belvedere 21 in Wien zeigt in einer Großausstellung 70 Arbeiten der britischen Künstlerin Rachel Whiteread. Auf wenig und doch ausreichend Platz sind hier Plastiken aus Gips, Harz, Beton, Gummi und Papier versammelt, Arbeiten aus 30 Jahren Schaffenszeit. Eine dichte, poetische, längst fällige Schau.
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Beim Oberen Belvedere steht eine kleine, weiße Hütte mit blinden Fenstern und einer Türe, die sich nicht öffnen lässt: ein kompakter, hermetisch versiegelter Körper, dessen Schwere und Massivität nur durch die feinen Abdrücke und Maserungen, die sich an der Oberfläche abzeichnen, ein wenig konterkariert wird. Es ist der Betonabguss eines typisch englischen Hühnerstalls – genauer genommen des Raums, den der Hühnerstall einmal eingenommen hat.
Schlicht, aber effektvoll
Whiteread ist berühmt für solche schlichten und doch äußerst effektvollen Materialisierungen von Leerräumen – was sie auch hier zum Prinzip erkoren hat. „Shy Sculptures“, schüchterne Skulpturen nennt sie die neue Serie, aus der „Chicken Shed“ (2017) stammt und deren Hütten und Häuschen sie üblicherweise an schwer zugänglichen Orten platziert, zum Beispiel in einem Fjord in Norwegen und in der kalifornischen Wüste.

Belvedere, Wien
„Chicken Shed“, der Abguss eines Hühnerstallinnenraums, ist der Vorbote der Rachel-Whiteread-Retrospektive im Belvedere 21
Nun steht Whitereads „Hühnerstall“ im sogenannten Pfirsichgarten neben dem barocken Schloss Belvedere und wirkt ganz besonders bäuerlich-funktionell. Dass die sowjetischen Besatzer auf dem Areal einst Hühner hielten, wie der Kurator Harald Krejci im Interview mit ORF.at erzählt, ist als Parallele nicht intendiert, sondern nur ein lustiger Zufall.
„Fünf Jahre Hölle“
Diese Hühnerstallplastik, die seit dem 2. Februar zu besichtigen ist, ist jedenfalls der Vorbote einer großen, von der Tate Britain übernommenen Rachel-Whiteread-Retrospektive, die jetzt im unweit gelegenen Belvedere 21 eröffnet wurde. Man möchte sagen: endlich. Eine Einzelausstellung gab es in Wien noch nie, auch wenn Whitereads Werk untrennbar mit der Stadt verbunden ist.
Von der Londoner Künstlerin, die 1993 im Alter von nur 30 Jahren als erste Frau mit dem renommierten Turner-Preis ausgezeichnet wurde, stammt das in seiner Reduziertheit bewegende Mahnmal für die jüdischen Opfer der Schoah in Österreich auf dem Wiener Judenplatz. Es ist ein für sie typisches, auch nach außen abgeschlossenes Monument, diesmal kein Abguss eines existierenden Raumes, sondern ein eigens geschaffener Quader, der eine nach innen gekehrte Bibliothek darstellt.
Whiteread-Schau im Belvedere
Whiteread erhielt als erste Frau den renommierten Turner-Preis, in Österreich hat sie sich durch das Holocaust-Mahnmal am Judenplatz einen Namen gemacht. Das Belvedere 21 widmet ihr eine große Werkschau.
Seit seiner Eröffnung im Jahr 2000 ist Whiteread nicht mehr in Wien gewesen - mit gutem Grund, wie Krejci meint. Das Mahnmal ist zwar eine ihrer wichtigsten Arbeiten, der Entstehungsprozess sei aber „fünf Jahre Hölle“ gewesen, wie die Bildhauerin einmal sagte. Von verschiedenen Seiten, von rechten und rechtskonservativen Politikern, aber auch von der Kultusgemeinde war das von Simon Wiesenthal initiierte Projekt stark angefeindet worden.
Poetische Spurensicherung
Für die Präsentation im Belvedere 21 sei, so Krejci, das Holocaust-Mahnmal nicht nur „Motivation“ gewesen, Whiteread nach Wien zu holen. Es sei auch eines der „Herzstücke der Ausstellung“. Man zeigt Skizzen und das Modell. Die Wucht von Whitereads Kunst kann man hingegen anhand anderer Großskulpturen erleben: Ausgestellt sind „Untitled (Book Corridors)“, eine Nebenarbeit zum Mahnmal; „Untitled (Stairs)“, der ein wenig an M. C. Escher erinnernde Negativraum vom Stiegenhaus ihres Ateliers, und „Untitled (Room 101)“.

Belvedere Wien, Foto: Johannes Stoll
Ausstellungsansicht: Links ist ein Stück von „Untitled (Stairs)“ zu sehen, im Hintergrund Whitereads „Untitled (Book Corridors)“, vorne rechts „Table und Chair (Clear)“
„Untitled (Room 101)“, das größte Objekt der Schau, wirkt äußerst beklemmend, auch wenn man es nicht betreten kann. Kennt man seine Geschichte, wird dieser Eindruck noch verstärkt: Es geht hier um den Raum 101 im ehemaligen Gebäude der BBC, der George Orwell vermutlich als Vorlage für die Folterkammer in seiner Dystopie „1984“ diente. Orwell hatte im Zweiten Weltkrieg zwei Jahre beim Britischen Rundfunk gearbeitet.
Ausstellungshinweis
Rachel Whiteread, bis 29. Juli, Belvedere 21, Wien, mittwochs bis sonntags 11.00 bis 18.00 Uhr, mittwochs und freitags bis 21.00 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog (Hirmer Verlag, 240 Seiten, 39,90 Euro) erschienen.
Den Abguss von Negativräumen hat Whiteread, die aus einem sozialistischen Elternhaus stammt und sich selbst auch als Sozialistin bezeichnet, bereits vor drei Jahrzehnten zu ihrer Methode gemacht. Mit ihrer „Mumifizierung von Luft“ betreibt sie, gleich einer Archäologin, Spurensicherung und schafft es so, den Blick auf das gewöhnlich nicht Beachtete zu lenken. Mit skulpturalem Ergebnis und poetischer Strahlkraft.
In der Wiener Ausstellung kann man das buchstäblich erleben: Etwa auch in „Untitled (Twenty Five Spaces)“ aus Polyesterharz, die einem dort entgegenfunkeln, von bernsteinfarben, rostbraun bis zu grünlich schimmernd. Die Arbeit ist ikonisch. Sie soll, so Krejci, „die Besucherinnen und Besucher zu Beginn der Ausstellung gleich einmal abholen“.
Minimalistische Sprache, autobiografisch geprägt
Ideengeber der von Whiteread weiterentwickelten Methode war Bruce Nauman, der mit „A Cast of the Space Under My Chair“ (1965-1968) ein konkretes Vorbild für die „Spaces“ schuf. Auch andere Zeitgenossen wie Carl Andre, Donald Judd und Sol LeWitt haben deutliche Spuren im Werk der britischen Künstlerin hinterlassen.
Jedoch nur in der Formensprache: Während die Minimal Art für die Neutralisierung jeglicher Individualität bekannt ist, hat Whitereads Arbeit oft biografischen Charakter und sozialkritischen Impetus. Als „Minimalismus mit Herz“ wurde ihr Ansatz einmal beschrieben, was ihre Kunst etwas verniedlicht, aber, wie Whiteread selbst sagt, einen wahren Kern hat.
Das Persönliche scheint vor allem in ihrem Frühwerk durch. In Wien ausgestellt sind etwa „Shallow breath“ (1988), zu Deutsch „Flacher Atem“, eine an die Wand gelehnte, matratzenähnliche Plastik. Sie zeigt den Unterraum eines Betts, den sie kurz nach dem Tod ihres Vaters abgoss. Eine andere Arbeit, „Closet“ (1988), macht das Innenleben eines Schranks sichtbar, in dem sich die Künstlerin als Kind oft versteckte.
Wärmeflaschen-Torsos aus den 80ern und 90ern
Insgesamt zeigt die ambitionierte Schau 70 Arbeiten der Künstlerin, die dichtgedrängt im Erdgeschoß des Belvedere 21 stehen, darunter alle drei Werkgruppen – Modelle ihrer architektonischen Arbeiten, raumgreifende Plastiken und Einzelobjekte.
Auch Whitereads berührendste Arbeiten sind derzeit in Wien zu sehen. In einer Vielzahl an Farben und Werkstoffen fertigte die Künstlerin Abgüsse des Inneren von Wärmeflaschen an, die ihr zufolge an „kopf- und gliederlose Babys“ erinnern. Die Plastiken entstanden ab 1988, die ersten unter dem Eindruck der Ära Margaret Thatcher. Sie erzählen von der Sehnsucht nach Wärme und Rückhalt. So einfach und doch so wirkungsvoll: Whitereads skulpturale Haltung lässt Zorn und Auflehnung spüren.
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