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Eine „sehr merkwürdige“ Geschichte

Endlich wieder ein Großprojekt von Haruki Murakami: Teil eins von „Die Ermordung des Commendatore“ mit dem Untertitel „Eine Idee entsteht“ ist erschienen. Ein Künstlerroman mit Krimispannung.

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„Die Grenzen zwischen wirklich und nicht wirklich, flach und plastisch, Geist und Materie verschwammen zunehmend“ – was in „Die Ermordung des Commendatore“ über die Malerei geschrieben steht, gilt auch für die Literatur von Murakami: ein zur Perfektion gebrachtes Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit, seine Gabe, Welten erstehen zu lassen, in denen sich Alltag und Magie ganz selbstverständlich ergänzen.

Was natürlich nicht alles ist. Dazu kommen, ganz entscheidend für den berühmten Murakami-Sound, eine gehörige Portion Melancholie und existenzialistische Einsamkeit, die man für die „Gestimmtheit unserer Epoche“ halten kann. Und außerdem – diesmal wieder – ein Plot voller Suspense.

Vorsicht, Suchtgefahr

„Ich befand mich in vielfacher Hinsicht in einem Ausnahmezustand, den ich erlebte wie ein Schwimmer, der bei ruhiger See unversehens in einen reißenden Strudel gerät“, heißt es aus der Perspektive des Ich-Erzählers. Vor den geneigten Leserinnen und Lesern wird dieser Strudel nicht haltmachen – Vorsicht, Suchtgefahr. Das „Problem“ daran: Der zweite Teil erscheint erst im April. In Zeiten des „Binge Watching“ ist man derartiges Auf-die-Folter-Spannen kaum mehr gewöhnt.

Wobei „erst“ im April natürlich nicht ganz richtig ist. „Die Ermordung des Commendatore“ ist – wie zuletzt Murakamis Roman „1Q84“ vor sieben Jahren – gute 1.000 Seiten lang und gerade vor einem knappen Jahr auf Japanisch erschienen. Auch diesmal hat die Übersetzerin Ursula Gräfe schnell gearbeitet. Das hat nicht nur mit der Popularität Murakamis zu tun, sondern auch mit seinem schlichten, reduzierten Stil, der ihn zu einem vergleichsweise leicht zu übersetzenden Autor macht. Weniger die sprachliche Komplexität, sondern die Komposition hat Murakami zur Meisterschaft gebracht.

Junger Maler in der Sinnkrise

Worum geht es im neuen „Mammut“ des japanischen Autors? Die Hauptrolle hat hier eindeutig die Malerei, in gleich mehreren Rollen: Da ist zunächst der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler, ein Porträtmaler, 36 Jahre alt. Mittlerweile kann er von seiner Arbeit ganz gut leben, hat aber immer wieder das Gefühl, eine „Edelprostituierte der Kunst“ zu sein. Es ist nicht die einzige und nicht die vorrangige Krise: Seine Frau hat ihn gerade verlassen, nach sechs Jahren Ehe.

Das Buch setzt ein, als sich dieser junge, gebeutelte Künstler im leer stehenden Haus des berühmten alten Malers Tomohiko Amada einquartiert. Davor ist er ziel- und orientierungslos mit dem Auto durch Japan gefahren. Ohne Pause, sechs Wochen lang und 120.000 Kilometer weit.

Buchhinweis

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore Band 1. Eine Idee erscheint. DuMont, 480 Seiten, 26,80 Euro.

Die abgelegene Hütte in den Bergen in der Nähe des Städtchens Odawara scheint nun perfekt, ein ideales Domizil für den Gestrandeten. Er nimmt eine Teilzeitbeschäftigung als Zeichenkursleiter an, beginnt zwei Affären, nimmt sich vor, die eigene Malerei wieder aufzunehmen und das Porträtieren bleiben zu lassen.

Kettenreaktion, die das Leben verändert

So beschaulich, wie das trotz dieser verfrühten Midlife-Crisis klingen mag, ist das aber nicht. Denn einerseits geht dem Künstler das freie Malen nicht von der Hand, Stunden und Tage sitzt er vor dem „Rien“ der weißen Leinwand. Und andererseits weiß man schon zu diesem Zeitpunkt, dass eine Lawine des Unheimlichen auf ihn zukommen wird.

Denn wie schon in „Naokos Lächeln“, in „Wilde Schafsjagd“ und zuletzt in „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ gibt es auch hier Vorgriffe auf die Erzählung: Von einer „Kettenreaktion“ ist da die Rede, von der der Ich-Erzähler nie geahnt hätte, wie sehr sie „sein Leben verändern sollte“. Murakami setzt diese Stilmittel sparsam ein, und immer treffsicher platziert. Man liest das Buch mit angehaltenem Atem – obwohl, das kann man sagen, letztlich doch nicht so viel passiert. So geht Spannungsaufbau eben auch.

Mysteriöser Geschäftsmann mit Löwenmähne

Die „Kettenreaktion“, das „Spiel von Ursache und Wirkung“, beginnt mit zwei Ereignissen: Zum einen bietet ein gewisser Wataru Menshiki eine exorbitant hohe Summe für ein Porträt. Er ist ein steinreicher Geschäftsmann aus der IT-Branche, äußerst gepflegt gekleidet, mit weißer Löwenmähne, silbernem Jaguar Sportcoupe und einer luxusdampferartigen Villa am gegenüberliegenden Hügel – womöglich nicht ganz zufällig?

Der Ich-Erzähler nimmt nach einigem Zögern den Auftrag an, und Menshiki sitzt ihm fortan Modell. Zu seiner Verwunderung gelingt es ihm nicht so richtig, dem Bild Tiefe zu verleihen. Menshikis Name ist Programm: Er bedeutet „Farbe vermeiden“. Über ihn ist kaum etwas in Erfahrung zu bringen, aber immer mehr dringt dieser Menshiki in das Leben des Künstlers ein.

Der ermordete Commendatore

Zum zweiten ist da noch ein geheimnisvolles Bild, von dem „eine außergewöhnliche Macht ausgeht“. Der Protagonist findet es auf dem Dachboden des Hauses: ein unbekanntes Werk des berühmten Hausbesitzers Amada. Es zeigt eine erschütternd grausame Szene, ein Schwertduell mit tödlichem Ausgang, das Gesicht des Opfers ist schmerzverzerrt, das Blut fließt in Strömen: „Die Ermordung des Commendatore“. Ein Motiv aus der Mozart-Oper „Don Giovanni“, übersetzt in die japanische Nihonga-Malerei.

Das Bild hält den Ich-Erzähler in Atem: Ist es der Schlüssel zum Werk Amadas, der nach seinem Wien-Aufenthalt 1939, kurz nach dem „Anschluss“, sich plötzlich von der westlichen Malerei ab- und dem Nihonga-Stil zuwandte? Hat es außerdem eine Verbindung zum geheimnisvollen, uralten Schrein im Wald, wo plötzlich jede Nacht eine Glocke läutet? Nicht immer geht es hier mit ganz natürlichen Dingen zu. Eine „sehr merkwürdige“ Geschichte nannte Murakami selbst diesen Roman. Und damit hat er nicht ganz unrecht.

Ein typischer Murakami

„Die Ermordung des Commendatore“ ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Murakami: Einmal mehr wird hier die Sehnsucht nach Flucht vor der „modernen Welt“ bedient, mit Protagonisten, die viel Zeit haben, losgelöst von finanziellen Sorgen und gröberen sozialen Problemen. Und auch diesmal gibt es Wiederholungen und Redundanzen, denen man aber gerne und gespannt folgt – wie es eben große Literatur verdient.

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