Wirtschaftlicher Niedergang
Die Protestwelle in Tunesien reißt nicht ab. Seit Tagen kommt es in der Hauptstadt Tunis und anderen Städten zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Mit Sprechchören wie „Das Volk fordert den Sturz des Finanzgesetzes“ ziehen vor allem Junge durch die Straße. Sie richten sich gegen die harte Sparpolitik der Regierung.
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Mit dem Anfang des Monats in Kraft getretenen Gesetz stieg unter anderem die Mehrwertsteuer um ein Prozent. Die Demonstranten beklagen gestiegene Preise für alltägliche Güter wie Medizin, Brennstoff und Essen, zu hohe Steuern und die grassierende Arbeitslosigkeit. Diese liegt bei rund 15 Prozent und trifft vor allem Junge. Gefordert wird eine bessere soziale Absicherung für Familien und ein Plan für den Kampf gegen Korruption.
Wiege des „arabischen Frühlings“
Die Probleme plagen Tunesien bereits lange: Nach dem „arabischen Frühling“ galt das Land als demokratische Erfolgsgeschichte. Allerdings hatte Tunesien seit der Entmachtung des früheren Präsident Zine el-Abidine Ben Ali vor fast genau sieben Jahren mehrere Regierungen, von denen keine das Land aus der wirtschaftlichen Krise führen konnte. Heute zeigt eine Umfrage von Dezember, dass 80 Prozent der befragten Tunesier die aktuelle Lage des Landes für schlechter als unter Ben Ali halten.

APA/AFP/Fethi Belaid
Bei den Protesten kam es zu zahlreichen Bränden und Plünderungen
Die Inflation stieg bis Ende vergangenen Jahres auf sechs Prozent, das Handelsbilanzdefizit erreichte eine beunruhigende Höhe. Die Staatsverschuldung stieg auf fast 70 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Wichtige Investitionen bleiben aus, die Korruption grassiert. Islamistische Organisationen versuchen, aus dieser Lage Profit zu schlagen, was wiederum Investoren abschreckt. Der Tourismus, eigentlich ein wichtiger Wirtschaftszweig, leidet immer noch unter den Nachwirkungen terroristischer Anschläge.
Brände und Tränengas
Im Zuge der Proteste kam es in drei Nächten in Folge zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. In der Hauptstadt Tunis und Vororten wurde Tränengas eingesetzt. Demonstranten zündeten Reifen, Barrikaden und einen wichtigen Polizeiposten in der Stadt Thala an. In der nordtunesischen Stadt Siliana bewarfen Jugendliche die Sicherheitskräfte mit Steinen und Molotowcocktails.
Mehr als 600 Menschen wurden nach Angaben des Innenministeriums festgenommen. Laut den Angaben handelt es sich dabei um „Plünderer“, welche die Proteste ausnutzen wollten. In Sozialen Netzwerken kursierende Bilder zeigen Einbrüche vermummter Menschen in Geschäfte. Dutzende Polizisten seien verletzt worden. „Was da stattfindet, sind Verbrechen und keine Proteste“, sagte ein Ministeriumssprecher. „Sie stehlen, schüchtern Leute ein und bedrohen privates sowie öffentliches Eigentum.“
In der Stadt Tebourba im Norden des Landes war zudem am Montag bei einem Protestzug auch ein etwa 40-jähriger Mann getötet worden. Laut lokalen Medien soll er an einer Atemwegserkrankung gelitten haben und an Tränengas erstickt sein. Das Innenministerium bestritt, dass die Polizei den Mann getötet habe. Der Obduktionsbericht wurde nicht veröffentlicht.
Soldaten vor Verwaltungsgebäuden
Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass wegen der Ausschreitungen in den größeren Städten nun Soldaten vor Banken, Postfilialen und Regierungsgebäuden postiert worden seien. Am Mittwoch hatte der tunesische Regierungschef Youssef Chahed bei einem Besuch in der Nähe von Tebourba die gewaltsamen Proteste als „Vandalismus“ verurteilt. Er bedauerte, dass jedes Mal „Vandalen“ aufträten, wenn es in Tunesien zu sozialen Spannungen komme.

APA/AP/Amine Landoulsi
Sicherheitskräfte verfolgen Demonstranten in Tebourba südlich von Tunis
Chahed hatte zu Beginn der neuerlichen Protestwelle die Menschen um Verständnis für die Einführung des neuen Finanzgesetzes gebeten. Die Lage sei außergewöhnlich, und das Land habe Probleme. „Aber wir glauben, dass 2018 das letzte schwierige Jahr für die Tunesier wird“, sagte Chahed. Die Steuererhöhungen würden helfen, die Wirtschaft zu stabilisieren. Am Abend warf Regierungschef Chahed kriminellen Netzwerken und Oppositionspolitikern vor, die Unruhen anzustacheln.
Warnung vor „autoritärer Versuchung“
Die Denkfabrik International Crisis Group (ICG) warnte indessen in einem Bericht vor einer „autoritären Versuchung“ für die politische Klasse Tunesiens. Sie warf dem tunesischen Präsidenten Beji Caid Essebsi am Donnerstag vor zu versuchen, das politische System auf sich auszurichten.
Die einflussreiche Gewerkschaft UGTT, deren übergeordnete Organisation 2014 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, verurteilte Gewalt und Plünderungen. Sie rief die Demonstranten dazu auf, „friedlich zu protestieren“, um nicht von Parteien „benutzt“ zu werden, die nicht das Gelingen „unserer gerade geborenen demokratischen Erfahrung“ wollen.
Das Außenministerium in Wien empfiehlt Tunesien-Reisenden „dringend“, die aktuellen Nachrichten laufend zu verfolgen, Menschenansammlungen weiträumig zu meiden und den Anweisungen lokaler Sicherheitskräfte Folge zu leisten.
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