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Jesus als Anstoß für ein Denksystem

Das Weihnachtsfest samt der Erzählung von Jesu Geburt markiert für Christen einen Anfang. Doch nicht nur für Gläubige ist das In-die-Welt-Treten Jesu, des Wortes, das Fleisch wurde, ein Initialmoment. Kein Denker in Europa vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert kommt an der Gestalt Jesus vorbei. Nicht selten steht die Auseinandersetzung mit ihm für Philosophen am Anfang ihres Systemsuchens.

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„Das Wort Christentum ist ein Missverständnis, im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz“, schrieb der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche 1888 in seiner polemischen Schrift „Der Antichrist“ - und hätte es besser wissen müssen, denn der „eine Christ“ in der Auffassung Nietzsches war im Grunde keiner. Was Nietzsche wie viele seiner Kollegen seit dem 18. Jahrhundert faszinierte: die Stellung des Jesus von Nazareth zur Praxis der jüdischen Lehre seiner Zeit.

Jesus, schreibt Nietzsche, habe den Aufstand gegen die Kaste der Schriftgelehrten versucht und „ein Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologe war“. Diese Einsicht ist so wenig originell wie Teil einer Konjunktur, die Gestalt Jesu von der ihm folgenden Lehre zu trennen - und sich seiner Person mit einer beinahe religionsgeschichtlichen Haltung zu nähern.

Unterwegs zum biografischen Jesus?

Selbst jene Philosophen der Aufklärung, deren erste Rolle im Leben die eines Geistlichen war - man denke nur an Johann Heinrich Lavater in Zürich und Johann Gottfried Herder, den „Hofprediger“ zu Bückeburg -, suchten in der Auseinandersetzung mit dem Christentum zunächst gern den historischen Jesus (Lavater tat das besonders geschickt über den Umweg Pontius Pilatus). Schon einige Jahrzehnte vor Immanuel Kant wollte man den neu gewonnenen Vernunftbegriff und die Auseinandersetzungen über die Religionen in ein zunächst von allen Polemiken freies Feld führen.

Anbetung Jesu, dargestellt von Anton Raphael Mengs

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Vorstellung von Christi Geburt zur Zeit der deutschen Spätaufklärung: Hier in einer Darstellung des klassizistischen Malers Anton Raphael Mengs aus den 1770er Jahren

Wie also umgehen mit dem Status und den Inhalten von Religion? Wie umgehen mit dem Spannungsfeld von Vernunft und - behaupteter - göttlicher Offenbarung? Spätere Philosophen wie Kurt Hübner, um einen aus der jüngeren Gegenwart zu nennen, werden die Frage dadurch lösen, dass sie Begriffe wie Glauben und Denken wieder fein säuberlich trennen und eine Art von mythischem Denken als Brückenkonstruktion zwischen beiden Bereichen installieren.

Kant, Hegel: Die Suche nach dem schlüssigen Ganzen

Für Kant und nach ihm auch den jungen Georg Wilhelm Friedrich Hegel war das keine Lösung. Sie wollten ein System. Und in dem einen System musste die Auseinandersetzung mit der Religion in einer befriedigenden Form geführt werden. Wie lassen sich „Volksreligion“, die Kant noch dem Bereich der praktischen Vernunft zuordnen konnte, und „Fetischglauben“ miteinander verbinden? Ist Religion als Teil der praktischen Vernunft vor allem auf Moral und Sittengesetz gebaut? Der junge Hegel war wie andere Idealisten nach ihm sicher, Kant habe diese Frage nicht überzeugend gelöst und sie quasi aus seinem Denksystem verbannt.

Für Hegel hätte eine Volksreligion ebenso jede Form von Fetischglauben zu verhindern wie eine zu starke Betonung vernunftgeleiteter Argumente. Religion ist für ihn auf den ganzen Menschen gerichtet und Sinnlichkeit (!) das Hauptelement im Handeln und Streben des Menschen, wie er in seinen frühen Fragmenten „Volksreligion und Christentum“ (1795) notierte. Eine Volksreligion vermittle sich in Einfachheit, ohne „die Herrschsucht der Priester“. Dementsprechend brauche eine Religion weder einen „Apparat von Gelehrsamkeit“ noch den „Aufwand von mühsamen Beweisen“.

Kupferstich des jungen Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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Hegel (1770-1831): In späteren Jahren Leitstern an der Universität Berlin, beschäftigte sich in seinen frühen Studienjahren eingehend mit der Geschichte des Christentums und erprobte erste Prinzipien seines späteren Denksystems

Hegel denkt zunächst von den Folgen, also vom spätantiken Christentum, weg. Dieses sieht er kritisch, weil die christliche Lehre über „die allgemeine, einfach menschliche Natur hinausgehe“; sie verlange, Gott im Geist der Wahrheit zu verehren, und wolle die Menschen wesentlich zu „Bürgern des Himmels“ erziehen. Es ist der Übergang von der „Privatreligion“ des Nazareners zur „Volksreligion“, die Hegel fasziniert. Doch sein eigentliches Interesse, das zeigen alle nachfolgenden Schriften, gilt der Figur Jesus, die er im Grunde aus den Erzählmustern der Bibel und der Lektüre religionshistorischer Schriften herauszupräparieren sucht.

Jesus und die Rolle des Messias

Gerade die Vorbildlichkeit Jesu bleibt Angelpunkt des Interesses Hegels, auch weil er Frühformen seines Sittlichkeitsideals am Verhältnis zwischen Jesus und dessen Jüngern durchspielen kann. Seine Schrift „Die Positivität der christlichen Religion“ ist für die Gegenwart eine Entdeckung, weil Hegel darin zahlreiche Interpretationsräume öffnet für die Frage nach dem Status des Messias, der Gottähnlichkeit und der Wunder.

Was Jesus den Juden seiner Zeit vermitteln wollte, so Hegel, hätten diese nur vom Messias entgegennehmen können: „Der Lehrer, der mehr in seinem Volk wirken wollte, als einen neuen Kommentar darüber abzuliefern, und es von der Unzulänglichkeit des statuarischen Kirchenglaubens überzeugen wollte, musste notwendig seine Behauptungen auf die gleiche Autorität gründen.“ Sich dabei allein auf die „Vernunft“ berufen zu wollen, fügt Hegel hinzu, „hätte den Fischen predigen geheißen“.

„Das Gehör, das sie und die meisten seiner näheren Freunde ihm gaben“, schreibt Hegel im „Messias“-Kapitel, gründe „sich auf die Möglichkeit, dass er der erwartete Messias vielleicht sei“. Auch „die Belehrungen“, die Jesus erteilt habe, „waren sie nur von diesem Messias anzunehmen geneigt“, konstatiert Hegel.

Der Philosoph und das Thema der Wunder

Was die Frage der Wunder anlangt, so ist für den jungen Philosophen allein die Frage entscheidend, dass „diese Taten für seine Schüler und Freunde Wunder waren“. „Wunder auf Treu und Glauben angenommen“, so Hegel, „begründen einen Glauben, eine Autorität des Täters derselben, und diese Autorität wurde das Prinzip der Verbindlichkeit zu Moralität.“

Erweckung des Lazarus in einem Gemälde des afroamerikanischen Malers Henry Ossawa Tanner

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Die Erweckung des Lazarus, hier in einer Vorstellung Ende des 19. Jahrhunderts des ersten international bekannten afroamerikanischen Malers Henry Ossawa Tanner. „Es ist allein entscheidend, dass es für seine Anhänger Wunder waren“, konstatiert Hegel zum Status der Wunder in der Bibel.

Noch, so scheint es, ist der Jesus, den Hegel hier als Figur in sein Denksystem setzt, ein sehr sendungsbewusster Kantianer, eine nach moralischer Autonomie strebende Gestalt. Allerdings möchte Hegel auch das Moment der Neigung in sein System bringen, denn erst mit dieser Neigung zur Handlung übersteigt er ein für Hegel knöchernes System. Jesus, so erinnert der große Hegel-Experte Charles Taylor, predige keine Moralität im kantianischen Sinn, sondern die spontane Einheit der Neigung mit dem Guten. So könne Jesus das Gesetz seiner Zeit übertreten - und sein eigenes zugleich erfüllen.

Die Entzweiung der Christen zwischen jüdischem Gesetz und Neigung vereinigt Jesus bei Hegel durch die Liebe. In Hegels kommendem System bedeutet das nicht weniger als: Die Knechtschaft der Gebote (im Fall des Christentums: der jüdischen Religion) wird durch die Subjektivität überwunden, um, wie es Hegel dann schon in seiner Frankfurter Zeit schreibt, „den Menschen in seiner Ganzheit wieder herzustellen“.

Osttiroler Weihnachtskrippe mit orientalischem Flair

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Auch in der bildlichen Ausdeutung der Weihnachtserzählung kann sich die Volkskunst wie die Philosophie auf wenige, knappe Stellen der Bibel stützen

Jesus und das autonome Selbst

Was in der von Hegel konturierten Figur von Jesus durchblitzt, ist nicht weniger als Hegels Suche nach dem Prinzip des autonomen Selbst, das er in die Hauptperson des Neuen Testaments projiziert. „Das Selbst ist die einzige innere Quelle, die sich in der Entfaltung der Vernunft wie auch gleichermaßen der Neigung zum Ausdruck bringt“, konstatiert Taylor.

Bücher zum Thema

  • Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Bd. 6. Hanser/dtv.
  • G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Suhrkamp, Bände 1 und 2.
  • Charles Taylor: Hegel. Suhrkamp.
  • Walter Jeschke: Hegel-Handbuch. J. B. Metzler.
  • Kurt Hübner: Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit. Mohr.
  • Frederic Lenoir: Comment Jesus est devenu dieu. Fayard.

Für Hegel gründet Religion nicht in Geschichtswahrheiten, sondern ihm geht es darum, wie er selbst schreibt, um Begebenheiten, „wie sie in der Phantasie und in dem erinnernden Leben der Juden (und man müsste erweitern: der nachfolgenden frühen Christen) vorhanden war“. Rund um das Wirken Jesu erprobt der junge Philosoph sein Denksystem: die Setzung des Subjekts und des Willens, die Fragen der Gesetze, Notwendigkeit, Sittlichkeit und Tugend.

Faszination der schweren Greifbarkeit

Was bei Hegel wie vielen anderen Denkern auffällt, ist der beinahe textgläubige Zugang zur Bibel in diesem Konnex. Die Handlungen des Nazareners schält Hegel ebenso wie etwa später Nietzsche aus den ihm zugeschriebenen Bibelzitaten heraus. Um eine religionshistorische Betrachtung geht es dabei ebenso wenig wie eine theologische. Was, so die Frage, lässt sich aus den Handlungen dieser Gestalt, die sich so schwer einschätzen lässt, für das eigene Denksystem gewinnen? Und wie hilft er dabei mit, Widersprüche zu formulieren und zu überwinden?

Faszinosum ist nicht zuletzt die ambivalente Gestalt, die Jesus von sich selbst zeichnet. Jesus, erinnert der französische Religionswissenschaftler und Soziologe Frederic Lenoir, bleibe sehr vage in allen Aussagen zu seiner eigenen Natur. Und für die Frage der Gottähnlichkeit hat Jesus ja nur Umkehrungen oder Gegenfragen parat. Als Pilatus (Lukas 23,3) von ihm wissen will: „Bist du der König der Juden?“, antwortet Jesus: „Du sagst es.“

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