Der Zombie unter den Popsongs
Das Popgeschäft ist kurzlebig, Hits kommen und gehen. Das Weihnachtslied ist aber ein Wiedergänger: Was nur vier, fünf Wochen pro Jahr gespielt werden kann, kehrt im nächsten Jahr zurück. Weihnachtspopsongs sind damit die Zombies des Musikgeschäfts - und „Last Christmas“ des britischen Popduos Wham! ist seit genau 33 Jahren ganz vorne dabei.
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Mitte Dezember 1984 wurde die Nummer von George Michael und seinem Partner Andrew Ridgeley veröffentlicht - und ist seitdem im Dezember von keiner Radioplaylist wegzudenken, geschweige denn aus dem Musikrepertoire jedes einzelnen Einkaufszentrums.
Eigentlich ein Osterlied?
Regelmäßig wird der Song in Umfragen zur nervigsten Begleiterscheinung der Adventzeit gewählt, gleichzeitig zählt er in anderen zu den beliebtesten Weihnachtssongs. Das Lied polarisiert - offenbar ganz ähnlich wie die grundsätzliche Einstellung zum Dezember-Trubel.
Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass der Song eigentlich „Last Easter“ hieß und für den Weihnachtsmarkt aus der Schublade gezaubert und umgetextet wurde. Wobei das Besingen von Ostern wohl weniger eine tatsächliche Marktlücke, sondern eher eine wirklich dumme Idee war. Insofern ist die „Last Easter“-Geschichte wohl nur gut erfunden. Auch das durchgängige Schellengebimmel und das wohl an Glockenklang angelehnte Keyboard wären in einem Ostersong fehl am Platz.
Ein kleines Meisterwerk
Doch auch wenn für einen Laien die Schnulze lapidar dahinplätschert, sieht es für den Experten ganz anders aus. In einem Artikel der „Welt“ wurde schon vor geraumer Zeit „Last Christmas“ als „durchkomponiertes“ Werk identifiziert. Vor allem die Strophen seien „äußerst komplexe Gebilde, die jede Art von Eingängigkeit und Wiederholung vermeiden“ - eher eine Seltenheit bei Popsongs.
Mit dem Spiel von Variationen und der unkonventionellen Melodieführung habe sich Komponist Michael in eine Reihe mit Franz Schubert und Johannes Brahms gestellt. Schönheitsfehler: Barry Manilow erkannte im Refrain seinen Song „Can’t Smile Without You“ von 1978. Die Einnahmen von „Last Christmas“ aus dem ersten Jahr spendeten Wham! nach einer entsprechenden Vereinbarung für Band Aid.
Beziehungskiste in den Bergen
Mit Weihnachten hat „Last Christmas“ allerdings außer dem Titel textlich wenig am Hut. Es dreht sich um das Scheitern einer Kurzzeitbeziehung (zwei Tage!), die sich halt offenbar zufällig zu Weihnachten zugetragen hat. Die ganze Geschichte der Beziehungskiste erzählt das im Schweizer Saas-Fee gedrehte Video: Eine Gruppe junger Briten verbringt die Festtage in einer Skihütte, man trifft sich bei der Talstation, großes Hallo, dann geht’s rauf zu Schneeballschlacht und Hüttendinner.

Screenshot youtube.com
Blicke zwischen viel- und nichtssagend
Gleich und gleich gesellt sich gern
Michael (geföhnt und ziemlich blondiert) reist eigentlich mit Gefährtin (geföhnt und ziemlich blondiert) an, erinnert sich aber ständig an eben die letzten Weihnachten. Denn da gab es ein Techtelmechtel mit der jetzigen Freundin (dunkelhaarig und sehr gelockt) seines Musikpartners (dunkelhaarig und sehr geföhnt).
Man wirft einander also schmachtende Blicke zu, die in radikaler Bild-Text-Schere zum eher abrechnenden und anklagenden Text stehen. Und oh, sie trägt auch noch die Brosche, die - wie in „Flashbacks“ zu sehen - er ihr „last Christmas“ geschenkt hat. Jedenfalls gehen am Ende doch die Blonden und die Dunkelhaarigen mit ihresgleichen nach Hause.
Ungleiches Duo
Getrennt haben sich die beiden ungleichen musikalischen Wham!-Partner George Michael und Andrew Ridgeley schon 1996. Michael wurde Popsuperstar, Ridgeleys Soloversuch floppte, Autorennfahrerei war auch nicht seines. Heute genießt er mit Bananarama-Sängerin Keren Woodward das britische Landleben.
Glanz und Elend der 80er Jahre
Auf seine ganz eigene ikonische Weise fasst das Video auch Glanz und Elend der 80er Jahre zusammen. Leichter Weichzeichner über allen Bildern, vor allem die Mode macht Angst, Schulterpolster, wohin man schaut, die Frisuren wurden schon erwähnt. Irritierend sind auch die Szenen nach dem Dinner: Ein Kameraschwenk zeigt die jungen Menschen postekstatisch herumlungern. Haben Hüttenpartys damals wirklich so ausgesehen?
1984 war für das Popduo ein großes Jahr: Mit „Wake Me Up Before You Go-Go“ feierte man die erste Nummer eins in Großbritannien, das zugehörige Album „Make It Big“, schaffte es wie der Vorgänger „Fantastic“ an die Spitze der Albumcharts. Als Soloprojekt Michaels schaffte es „Careless Whisper“ ebenfalls zur Nummer eins, gefolgt von „Freedom“, wieder ein Bandprojekt.
Nie Nummer eins
„Last Christmas“, in Großbritannien als Doppel-A-Seite mit „Everything She Wants“ veröffentlicht, scheiterte allerdings an übermächtiger weihnachtlicher Konkurrenz und kam über den zweiten Platz nicht hinaus. Zunächst besetzte „The Power of Love“ von Frankie Goes to Hollywood den Nummer-eins-Platz, dann setzte sich „Do They Know It’s Christmas Time“ von Band Aid an die Spitze.
Auch bei den beliebtesten Weihnachtsliedern auf der Insel reichte es in einer kürzlich veröffentlichten Umfrage nur für Rang drei - hinter Mariah Careys „All I Want for Christmas“ und „Fairytale of New York“. Der Song der Folkrabauken The Pogues mit Gastsängerin Kirsty MacColl wurde mit deutlichem Abstand auf Platz eins gewählt.
Hunderte Coverversionen
Allein der englischsprachige Wikipedia-Eintrag von „Last Christmas“ listet mehr als 120 Coverversionen des Songs auf, andere Quellen sprechen von mehr als 500 - und davon sind sehr viele weitaus härter zu ertragen als das Original. So haben sich auch einige US-Stars des Songs angenommen. R-’n’-B-Sternchen Ariana Grande etwa wollte 2013 damit punkten, Taylor Swift schon mit ihrer Version vor ein paar Jahren.
Überhaupt nahm die Dichte der Neuinterpretationen in den vergangenen Jahren markant zu, Trends gab es in zwei Richtungen. Zunächst wurde der Song öfter durch die Eurodanceverwurstungsmaschine gedreht, etwa mit solchen und ähnlichen Ergebnissen für Menschen, die es lustig finden, mit Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf den Advent zu verbringen.
Es geht auch anders
Auf der anderen Seite entdeckte der eher alternative Musikbereich den Song. Jimmy Eat World veröffentlichten den Song schon 2004 als recht uninspirierte Rocknummer, interessanter klingt da schon die Interpretation von Florence and the Machine. James Dean Bradfield, Sänger der Manic Street Preachers, bietet immer wieder eine Akustikversion an, die zeigt, dass der Song kompositorisch einiges zu bieten hat.
Für Aufsehen sorgte vor einigen Jahren The xx, das damals fast zu Tode gehypte Duo riskierte sein cooles Image damit nachhaltig. Und I Like Trains aus Leeds verwandelten den eigentlich traurigen Text in eine ausgewachsene Weihnachtsdepression, mit der sich die eine oder andere Träne in den Punsch drücken lässt.
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