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Durch Schnee und Eis

Keine Mühen, keinen Aufwand haben Regisseur Felix Randau und sein Team bei den Vorbereitungen und Dreharbeiten zu „Der Mann aus dem Eis“ gescheut. Der Actionfilm bringt dem Publikum Ötzi und seine Welt näher.

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Zunächst gleich die größte Überraschung: Ötzi heißt hier nicht Ötzi, sondern Kelab. Er steht dem kleinen Tineka-Clan vor, gerade einmal eine größere Familie, die ein paar Hütten ans Ufer eines Gebirgsbaches gebaut hat. Alles eitel Wonne, gleich die erste Szene zeigt einen herzhaften Geschlechtsverkehr, direkt abgelöst von einer Geburt und dann von einem Begräbnis. Eros und Thanatos, die Liebe, das Leben und der Tod - abgehandelt in drei Minuten.

Filmszene aus "Der Mann aus dem Eis"

Port au Prince Pictures

Jürgen Vogel als Ötzi, der eigentlich Kelab heißt

In dieser Taktrate geht es weiter, zunächst mit einem Angriff auf den Clan, als Kelab gerade beim Jagen ist. Fast alle werden niedergemetzelt; besonders der Tod von Kelabs Frau Kisis (Susanne Wuest) und seiner Tochter Rasop (Paula Renzler) treibt ihn in den Wahnsinn, er dürstet nach Rache. Was folgt, ist eine brutale Verfolgungsjagd quer durch den Wald, über verschneite Gletscher und Felswände. Randau spricht von einem „Kreislauf der Gewalt“ - Auge um Auge, Zahn um Zahn: Wird sich Kelab dieser Logik entziehen können?

Kein Uga-Uga-Urzeitschinken

Der deutsche Regisseur Randau (Jahrgang 1974) hat bisher zwei Spielfilme gedreht, sein Studienabschlussprojekt „Northern Star“ (2003) und den Psychothriller „Die Anruferin“ (2007). Für den dritten Film hat er sich auf das Ötzi-Großprojekt eingelassen, eine deutsch-italienisch-österreichische Koproduktion, finanziert unter anderem vom ORF. Man stellt sich die berechtigte Frage: Wieso ist bisher niemand auf diese Idee gekommen? Schließlich bietet sich der offenbar brutal gekillte Ötzi samt seiner letzten Bergtour ideal als Thrillerstoff an.

Der Stoff ist also gut - und wirft die Frage auf: Wie kann man am meisten aus ihm herausholen? Die Gefahr dabei: dass am Ende ein plakativer Blödsinn herauskommt. Randau war sich dieser Gefahr bewusst und auch dessen, dass Ötzi kein urhistorisches Allerweltsthema ist, sondern das urhistorische Leib- und Magenthema vieler Österreicher und Italiener. Es ist so viel wissenschaftliches Halbwissen vorhanden, dass man sich hüten sollte, einen Uga-Uga-Knochen-durch-die-Nase-Urzeitschinken zu drehen.

Die neue Hinwendung zu den Anfängen

Überhaupt scheint die Zeit reif für eine nähere Auseinandersetzung mit dem Menschen im Makromodus, in großen Zeiträumen, angesichts des Klimawandels, dessen Auswirkungen Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zu spüren sein werden. Yuval Noah Harari hat das in seinem Weltbestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ gut herausgearbeitet, heuer legte der preisgekrönte Wissenschaftsjournalist und „FAZ“-Herausgeber Jürgen Kaube mit einem genaueren Blick nach, sein Buch „Die Anfänge von allem“ über die Ursprünge der Kultur ist höchst lesenswert.

Und in diese Bresche schlägt auch Randau - er wollte, wie er im Interview mit dem ORF sagte, historisch so präzise wie möglich vorgehen und hat sich und sein Team umfangreich von Frühgeschichteexperten beraten lassen. Von der Hüttensiedlung des Ötzi-Clans bis hin zur Kleidung zeigt der „Der Mann aus dem Eis“ den Letztstand der Forschung. Besonderer Aufwand wurde mit der Sprache getrieben.

„Retamne Helano!“

Gemeinsam mit Sprachwissenschaftlern hat das Filmteam ein Idiom entwickelt, wie es damals vielleicht in dem Tal gesprochen wurde, in dem Ötzi aufwuchs. Es basiert auf dem Rätischen, das in dieser Region bis ins 3. Jahrhundert nach Christus nachgewiesen ist. Ötzi-Darsteller Vogel nennt das eine „Tu“-Sprache: „Das ist keine intellektuelle Sprache, sondern eine Sprache, mit der du dokumentierst, was du gerade tust.“ Und die Sprache wird im Film auch für Rituale gebraucht. Kelab hält eine Holzschachtel mit einem heiligen Stein hoch und ruft bedeutungsschwanger: „Retamne Helano!“

Untertitel gibt es keine. Es ist ein wenig so, als würde man sich „The Revenant“ (mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle) in der finnischen Synchronfassung anschauen: Hier wie dort stolpert ein pelzbekleideter, psychisch wie physisch Versehrter durch verschneite Berge und muss Abenteuer um Abenteuer bestehen. Die Spannungskurve ist von Anfang bis Ende recht unterschiedslos auf Anschlag, die Motivlage lässt keine Fragen offen und das Ende ist - wie gesagt, zumindest für Österreicher und Italiener - keine Überraschung.

Bombast, Akribie, Action

Was fehlt, sind Zwischentöne, Nebenstränge der Handlung, Gewitztheit, unerwartete Volten, gestalterischer Mut (statt nur Akribie plus Bombast), eine gewisse Verspieltheit im Blick, Ironie - Freunde leiser Töne und Arthouse-Cineasten versäumen eher nichts. „Der Mann aus dem Eis“ teilt das Schicksal vieler „wissenschaftlich approbierter“ Filme.

Ridley Scotts „The Gladiator“ mag noch so historisch akkurat, sein „Der Marsianer“ und Alfonso Cuarons „Gravity“ noch so sehr gemeinsam mit NASA-Experten ausgetüftelt sein, James Camerons „Terminator“ noch so sehr visionäre Technikphilosophien reflektieren - diese Filme sind eben, was sie sind: Actionkino; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ob sich „Der Mann aus dem Eis“ in die Reihe dieser Kultfilme einreihen wird, bleibt abzuwarten.

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