Junge tendieren zum „Jungen“
Die Schule ist „der Ort, wo ein Bewusstsein für die verschiedenen, gleichwertigen Spielarten des Deutschen entstehen kann und soll“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Jutta Ransmayr im Interview mit ORF.at. Sie fordert, das österreichische Deutsch in der Lehrerausbildung mehr zu thematisieren.
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ORF.at: Welche Rolle spielt das österreichische Deutsch an österreichischen Schulen?
An österreichischen Schule wird natürlich österreichisches Deutsch gesprochen, aber „Österreichisches Deutsch“ als Thema spielt im Schulkontext bestenfalls eine marginale Rolle. Das trifft im Prinzip auf alle schulrelevanten Bereiche zu: In den Deutschlehrplänen ist österreichisches Deutsch oder der Umgang mit anderen Standardvarietäten im Deutschen derzeit kein Thema.
Insofern überrascht es wenig, dass sich auch in den Lehrbuchserien für den Deutschunterricht kaum etwas darüber findet, nur in einzelnen Lehrwerken gibt es kleine Exkurse zum österreichischen Deutsch und den anderen plurizentrischen Standardvarietäten – mit mehr oder weniger geglückten fachlichen Darstellungen.
ORF.at: Wie sehr ist das österreichische Deutsch Thema in der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen?
Im Lehramtsstudium Deutsch hören und lernen angehende Deutschlehrerinnen und -lehrer während ihrer Ausbildung an vielen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen nichts darüber. Das ist insofern eine problematische Situation, als man von Lehrerinnen und Lehrern ja nicht erwarten kann, etwas im Unterricht einzubeziehen, wozu sie zum einen kaum Hilfsmittel zur Hand haben oder diese nicht kennen und worüber sie zum anderen in der Ausbildung nichts gelernt haben.
Und letztlich brauchen auch die Deutschlehrerinnen und -lehrer selber Fachwissen, um mit dem Thema „sprachliche Standardvariation“ kompetent und fachlich korrekt umgehen zu können. Hier muss unbedingt die Lehrerausbildung in die Pflicht genommen werden.

Sandra Lehecka unter CC BY-4.0
Die Sprachwissenschaftlerin Jutta Ransmayr lehrt am Institut für Germanistik der Uni Wien
ORF.at: Sie haben am Forschungsprojekt „Österreichisches Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“, das am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien durchgeführt wurde, mitgearbeitet. Welche Einstellungen haben Lehrende gegenüber dem österreichischen Deutsch?
Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass österreichische Lehrende dem österreichischen Deutsch gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind und sie sich zum Beispiel im Bereich des Wortschatzes relativ „sprachloyal“ gegenüber dem österreichischen Deutsch verhalten. Es gibt aber Bereiche, wo sich ein generationsspezifischer Sprachwandel abzeichnet, der sich darin zeigt, dass vor allem jüngere Lehrerinnen und Lehrer vermehrt zu bundesdeutschen Ausdrücken tendieren.
ORF.at: Gibt es Tendenzen unter Lehrenden, sich bei der Korrektur von Texten am bundesdeutschen Deutsch zu orientieren – mit dem Ergebnis, dass österreichische Ausdrücke wie „Sackerl“ als umgangssprachlich markiert werden?
Die Tendenz, dass sich österreichische Lehrer und Lehrerinnen bei der Textkorrektur an einer „Außennorm“ orientieren, gibt es durchaus. Dies konnten wir zum Beispiel bei der Untersuchung des Korrekturverhaltens feststellen.
Denn neben einer einerseits recht klaren Unterstützung des Konzepts, dass es ein eigenes österreichisches Standarddeutsch gibt, das sich in einigen Bereichen vom Deutsch Deutschlands unterscheidet, konnten wir unter Österreichs Deutschlehrern und -lehrerinnen bei einzelnen Begriffen immer wieder Unsicherheiten orten, wenn es um die Frage geht, ob österreichisches Deutsch ebenso korrekt ist wie deutschländisches Deutsch.
Dass das „Sackerl“ oder das „Pickerl“ standardsprachliche Ausdrücke sind, könnte manchen nicht klar sein bzw. da sind manche unsicher. Hilfe würde man in einschlägigen Wörterbüchern finden (Variantenwörterbuch, Österreichisches Wörterbuch …), wo man im Idealfall nachschlägt, bevor man sie anstreicht, ohne wirklich sicher zu sein. Auch eine „Welle“ unter einem Wort kann problematisch sein, da eine Welle dem Schüler signalisiert, dass hier etwas nicht ganz passt.
ORF.at: Warum wird das österreichische Deutsch schnell einmal als umgangssprachlich empfunden?
Was die Deutschlehrer und -lehrerinnen betrifft, so empfinden diese vor allem eine Kombination aus Umgangssprache, Dialekt und standardnaher Mediensprache als „österreichisches Deutsch“, und eben nicht nur die österreichische Standardsprache. Auch im Alltag wechseln wir ja sehr häufig zwischen der Umgangssprache und dem Standard hin und her, das ist für den Sprachgebrauch in Österreich recht typisch.
ORF.at: Zumindest im Wiener Raum hört man Schüler und Schülerinnen kaum noch „der Einser“ oder „der Zweier“ sagen, stattdessen „die Eins“ und „die Zwei“. Gibt es andere typische Beispiele für Austriazismen, die zunehmend aus dem Sprachgebrauch von Kindern und Jugendlichen verschwinden?
Beispiele aus unseren Ergebnissen für Begriffe, die sicherlich in Bewegung sind, sind etwa „Bub“ oder „das“ Cola, „das“ E-Mail bzw. „das“ SMS. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass beispielsweise fast 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler den „Jungen“ bevorzugen – übrigens trifft das auch auf die jüngeren Lehrkräfte zu. Unter den Lehrern und Lehrerinnen, vor allem jenen, die über 40 sind, ist es genau umgekehrt.
ORF.at: Gibt es Austriazismen, die sich auch bei Kindern und Jugendlichen auffallend hartnäckig halten?
Begriffe, die stabil sind, wären zum Beispiel „Jänner“ statt „Januar“ oder „bin gestanden“ statt „habe gestanden“.
ORF.at: Eine Volksschullehrerin sagte in einem Hintergrundgespräch mit ORF.at, dass wegen der notwendigen Binnendifferenzierung in heterogenen Klassen oft auf Material aus dem Internet zurückgegriffen werde. Kann man von Lehrenden, die oft mit geringen Ressourcen sehr heterogene Klassen unterrichten, verlangen, auch noch darauf zu achten, ob sich in einem Arbeitsblatt ein „Januar“ oder ein „Junge“ eingeschlichen hat?
Wenn in Arbeitsmaterialien dort und da Beispiele für länderspezifische Unterschiede, etwa zwischen Österreich und Deutschland, vorkommen, dann sind das doch großartige Gelegenheiten, das Thema kurz aufzugreifen und anzusprechen.
Es geht ja in erster Linie um das Bewusstmachen der Vielfalt in der deutschen Sprache und das Sensibilisieren dafür – das ist am allerwichtigsten, und damit ist auch schon unheimlich viel gewonnen. Deshalb würde ich Unterrichtsmaterialien, in denen Deutschlandismen oder vielleicht Helvetismen enthalten sind, nicht verteufeln, sondern produktiv nützen. Voraussetzung: Die Lehrkraft sollte sich im Thema gut auskennen.
ORF.at: Kinder und Jugendliche sind ja durch in Deutschland produzierte Medien ohnehin an das bundesdeutsche Deutsch gewöhnt. Macht es dennoch einen Unterschied, ob sie in Deutschland produzierte Medien konsumieren oder ob sie Deutschlandismen in der Schule quasi als Norm vermittelt bekommen?
Ja, absolut. Ich denke, dass Kinder und Jugendliche sehr wohl unterscheiden können zwischen der Sprache, die sie im Fernsehen oder auf YouTube mitbekommen, und der Sprache, die in der Schule gefragt ist und die sie dort hauptsächlich hören.
Die Schule ist der Ort, wo die Grundfesten für ein bestimmtes Normverständnis gelegt werden, und die Lehrkraft spielt da eine ganz wichtige Rolle – als Sprachvorbild und als „erste normative Instanz“ für die Schülerinnen und Schüler. Und – ich kann mich hier nur wiederholen – die Schule ist auch der Ort, wo ein Bewusstsein für die verschiedenen, gleichwertigen Spielarten des Deutschen entstehen kann und soll.
ORF.at: Was entgegnen Sie der Aussage „Sprache verändert sich nun einmal, und wenn das österreichische Deutsch durch den Einfluss des Bundesdeutschen verschwindet, dann ist das halt so“?
Österreichisches Deutsch verschwindet nicht, aber es verändert sich, und das darf es auch. Das Ziel soll nicht sein, sich sprachlich abzuschotten, sondern selbstbewusst mit österreichischem Deutsch umzugehen. Das gilt nicht nur für die Schule, sondern auch für den Alltag.
Das Interview führte Romana Beer, für ORF.at