Was ist Heimat?
Düstere Blicke in österreichische Schlafzimmer der frühen 1980er Jahre, aber auch feinfühlige Porträts oberösterreichischer Bauernfamilien und authentische Bilddokumente aus alkoholschwangeren Wiener Spelunken: Die Fotoausstellung „Österreich. Fotografie 1970 – 2000“ sucht in der Wiener Albertina Formen österreichischer Identität und findet sie mitunter auf besondere Weise.
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Die Künstler Norbert Brunner und Michael Schuster haben im Jahr 1979 den Alpenraum auf eigenwillige Art und Weise „vermessen“. Von Garmisch-Partenkirchen beginnend haben sie Orte wie Leutasch, Kematen, Götzis und Milland bis runter in die deutsche Sprachinsel des Fersentales im italienischen Trentino in größter formaler Strenge, gleich einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung, fotografisch dokumentiert: Dorfplatz, Kircheninneres, Friedhof und ein Panoramablick vom Kirchturm. Das war das eine.

Albertina Wien
Rattersdorf: Seiichi Furuya dokumentierte 1981 das Leben am Eisernen Vorhang
Zum anderen sind auf der Reise Tonaufnahmen entstanden, um die lokalen Dialekte ebenfalls zu dokumentieren. Die Künstler bedienten sich damals eines pragmatischen Zugangs: Brunner und Schuster haben in allen Orten das kollektiv gebetete „Vater Unser“ in der Kirche auf Band aufgenommen.
20 Jahre später hat Schuster alle Aufnahmen exakt wiederholt und den Foto- und Tondokumenten gegenübergestellt, um den Wandel fassbar zu machen. Das Ergebnis ist eines der zentralen Werke der Ausstellung „Österreich. Fotografie 1970 – 2000“ in der Albertina, die sich mit der Konstruktion von Heimat und Identität im Wandel der Zeit auseinandersetzt.
Ausstellungshinweis
„Österreich. Fotografie 1970 – 2000“ ist noch bis 8. Oktober 2017 in der Albertina zu sehen.
Der Heimatbegriff im öffentlichen Diskurs
Inspiration für die Idee zur Ausstellung habe der Bundespräsidentschaftswahlkampf des vergangenen Jahres geliefert, erklärt Walter Moser, Kurator der Ausstellung und Leiter des Bereichs Fotografie der Gegenwart in der Albertina: „Es war interessant zu beobachten, wie im letzten Jahr der Heimatbegriff neu verhandelt wurde, was sich auch auf visueller Ebene in Form von Bergkulissen in der Kampagne von Alexander Van der Bellen gezeigt hat.“

Österreichische Fotogalerie;Albertina Wien
Links: Manfred Willmann, Ohne Titel (aus der Serie Das Land), 1981–1989; rechts: Leo Kandl, In der Grube – Kniekuss, 1979-1980
Vergleiche zu den 1970er Jahren hätten sich aufgedrängt, als insbesondere auch auf künstlerischer Ebene neue Formen der Annäherung an den Heimatbegriff entstanden sind – die 1970er Jahre als eine Zeit des Aufbruchs und des Wandels, in der Tradiertes in Frage gestellt wurde, leisteten auch der Fotografie als selbstbewusster eigenständiger künstlerischer Kategorie ungeheuren Vorschub. „Österreich. Fotografie“ dokumentiert ebenso diese Zeit der Entstehung von neuen Strömungen in der Fotografie.
Milieus von Stadt bis Land
Mit Werken von über 20 österreichischen Künstlerinnen und Künstlern von Heinz Cibulka über Lisl Ponger und VALIE EXPORT bis hin zu Friedl Kubelka und Manfred Willmann wird der Blick in ländliche Milieus ebenso geworfen wie die Menschen des urbanen Raums eine Rolle spielen. Aber auch die baulichen Veränderungen sowie die Transformation ganzer Gegenden und die politische Vergangenheit Österreichs werden so zum Inhalt der künstlerischen Auseinandersetzungen.
Das Sezieren des Landes
Mit Heinz Cibulkas Arbeiten aus dem Zyklus „Fühlt-Most“ stellt die Ausstellung bewusst eine Auseinandersetzung mit dem ländlich-bäuerlichen Raum an erste Stelle: „Der ländliche Teil Österreichs war immer schon zentral die Identität des Landes und das Verständnis von Heimat“, erklärt Moser, der mit dem aus dem Umfeld des Wiener Aktionismus rund um Rudolf Schwarzkogler und Hermann Nitsch stammenden Cibulka einen Künstler ausgewählt hat, der das rurale Leben in Österreich mit einer gewissen Außensicht betrachtet, um umso tiefer vorzudringen.

Albertina Wien
Heinz Cibulka hat mit seinen Vierertableaus das Landleben der frühen 1980er Jahre seziert
Cibulkas Vierertableaus aus dem Jahr 1981 demonstrieren das österreichische Landleben zwischen Idylle, religiöser Symbolik und dem bäuerlichen Arbeitsalltag. Dazwischen tauchen medizinisch-wissenschaftliche Abbildungen des menschlichen Körpers auf, die freie Sicht auf die menschliche Anatomie gewähren. „Das Land war für mich etwas Exotisches, das ich wie ein Forscher sezieren konnte“, beschreibt Cibulka im Katalog zur Ausstellung seinen damaligen Zugang. Cibulka versteht diese Vierertableaus als Bildgedichte in Anlehnung an Haikus. Cibulka vermittelt auch eine gewisse Sinnlichkeit.
Das Schlafzimmer als Gruft
Die düstere Dokumentation österreichischer Schlafzimmer des Vorarlberger Fotografen Nikolaus Walter zeigt ein Stück höchst Privates, das dennoch zum kollektiven Symbol geworden ist. Schlafzimmer mit groß gemusterten Tapeten und schweren Holzeinbaumöbeln, die atmosphärische Qualitäten einer Familiengruft boten, hat Walter anno 1981 dokumentiert, aber auch die damals neu aufgekommenen Fototapeten, die die Schlafzimmer des Landes für lange Zeit bestimmt haben. Walters Schwarzweißaufnahmen vermitteln eine bemerkenswerte Unbehaglichkeit und erzählen weit mehr als nur vom Einrichtungsgeschmack einer Generation an Österreichern.

Österreichische Fotogalerie;Albertina Wien
Links: Elfriede Mejchar, Ohne Titel (aus der Serie Simmeringer Haide und Erdberger Mais), 1967–1976; rechts: Bernhard Fuchs, Frau K., St. Margareten, 1999
Sinnliche Vermittlung
Lisl Pongers „Xenographische Ansichten“ spielen mit inszenierten kulturellen Brüchen und verhandeln das Thema Identität auf einer visuellen Ebene, die das Ethnische thematisiert. Und natürlich dreht sich die Frage nach der Identität auch um das Thema Essen, was auch zum Lachen anregt, wenn Essiggurken und Ketchup zu nationalen Identitätsstiftern befördert werden. Trotz der Flachware Fotografie weiß die Schau das Thema Identität sehr sinnlich zu vermitteln und bietet eine bemerkenswerte Vielfalt an Perspektiven, die den Blick auf Wohlbekanntes verändern oder auch schärfen, und auf andere Art und Weise auch vollkommen verschwimmen lassen.
Abstraktion mittels Insekten
Eine Videoarbeit der Künstler Günther und Loredana Selichar zeigt aus der Fahrerperspektive einen wilden Ritt mit dem Auto über eine typische schmale österreichische Landstraße mit Geländekuppen und Kurven. Das Video startet mit sauberer Kameralinse, bis eine Fliege nach der anderen auf dem Glas aufklatscht und von der österreichischen Landschaft nichts mehr zu sehen ist, außer einer abstrakten Schicht geplatzter Insekten. Kurator Moser: „Jetzt sieht es wie ein Jackson Pollock aus.“
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Johannes Luxner, für ORF.at