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Roths „Italienische Reise“

Gerhard Roth wandert wieder zwischen den Welten - zwischen Kulturen, Bewusstseinszuständen, zwischen Gut und Böse, zwischen feuilletonistischen Betrachtungen und Thrill. Dieser Tage ist „Die Irrfahrt des Michael Adrian“ erschienen, Teil eins seiner neuen Venedig-Trilogie.

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Ein großes Jahr für Gerhard Roth: Er wurde 75 Jahre alt und mit einer Lesung von Elisabeth Orth und Klaus Maria Brandauer im Burgtheater gewürdigt sowie in seiner steirischen Heimat gefeiert. Zum Jubiläum wurde der „Landläufige Tod“ in einer schönen Ausgabe neu aufgelegt, jenes Buch Roths, das sich nach landläufiger Meinung der österreichischen Kultur-DNA am drängendsten nähert und sich gleichzeitig in sie eingeschrieben hat.

Der Medienrummel rund um den Start seiner Venedig-Trilogie stellt sogar jenen anlässlich seiner Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises im Vorjahr in den Schatten. Roth ist bei alldem aber kein Monolith, der als Kulturprovinzkaiser von den Meriten und Beziehungen früherer Tage profitiert, sondern bleibt ganz der neugierige Forscher und akribische Beobachter, der er schon immer war.

Cover des Buchs "Die Irrfahrt des Michael Aldrian" von Gerard Roth

S. Fischer

Gerhard Roth: Die Irrfahrt des Michael Aldrian. S. Fischer, 492 Seiten, 25,70 Euro.

GTA, Arte und Venedig

In seinem Haus in der Steiermark ist Roth zwar neben Hühnern, Katzen und einem Wäldchen vor allem von Fotos alter Freunde wie Wolfgang Bauer und Günter Brus umgeben, aber gleichzeitig sitzt er am MacBook, ist im Fußball wie in der Politik up to date, beobachtet seine Enkel beim GTA-Spielen (Grand Theft Auto, was in sein neues Buch eingeflossen ist), schaut Arte-Dokus, hält sich über technische Neuerungen auf dem letzten Stand, macht Tausende und Abertausende Fotos (von der großen Welt bis hin zur Topografie kleinster Strukturen der Biologie und der Landschaft) und - eine Leidenschaft seit jungen Jahren - reist gemeinsam mit seiner Frau Senta, alleine 14-mal nach Venedig.

Venedig, so Roth im Interview mit ORF.at, habe ihn schon als Kind in seinen Bann gezogen, als er es mit seinen Eltern bereiste: „Wenn man mit seiner Geburt einen riesigen Irrgarten betritt, in dem man sich bis zum Lebensende aufhält, so ist Venedig für mich ein sichtbarer Teil dieses Labyrinths. Ich konnte mir damals nichts von dem erklären, was ich gesehen habe. Die Mosaike im Markusdom verwirrten mich ebenso wie die Pracht des Dogenpalastes.“

Man kann es sich bildlich vorstellen, wie sich eine Miniaturversion des später sehr hoch geschossenen Roth mit vom Staunen offenem Mund in den Gässchen Venedigs verliert, irgendwo zwischen den Kanälen und den prunkvollen, geschichtsbeladenen Palästen - ganz genau so, wie es der Hauptfigur seines neuen Romans ergeht, Michael Aldrian.

Ein Kunsthistoriker an der Front

Michael war zeit seines Lebens Souffleur in der Wiener Staatsoper, bis er durch einen Gehörsturz arbeitsunfähig wurde. Immer noch kann er die wichtigsten Opern des abendländischen Kanons auswendig, und auch sonst ist er in der Kunst- und Kulturgeschichte eher zu Hause als in der schnöden Realität des Alltags. In Venedig will er einmal mehr seinen Bruder Jakob besuchen, einen Preziosenhändler und talentierten Illustrator von Tierlexika, der schon seit Langem mit seiner Frau Elena dort lebt. Diesmal möchte Michael länger bleiben, um einen originellen Reiseführer zu verfassen, er hat schon Termine mit allen möglichen Venedig-Kennern arrangiert.

Doch als er in der Lagunenstadt ankommt, sind Jakob und Elena spurlos verschwunden. Michael macht sich auf die Suche und will nicht glauben, dass sein Bruder Teil eines Geldfälscherringes ist, wie die Polizei behauptet. Michael gerät dabei, sagt Roth, in den Strudel der Ereignisse, steht nicht mehr am Rand, sondern ist mittendrin, was seinem Naturell sonst so gar nicht entspricht: „Er verhält sich wie ein Kunsthistoriker, der zum Militär eingezogen wird und zuletzt als Soldat in den Krieg ziehen muss, weil er keine andere Wahl hat.“

Knallhartes Finale

Zunächst dominieren die Stadterkundungen, eine aufkeimende Liebe und die Sorge um den Bruder, doch in konzentrischen Kreisen wird das Geschehen dramatischer, verdichtet sich die Handlung auf den Gewaltmarsch Michaels durch die Geschichte seines abwesenden Bruders, durch die Machenschaften der „M.“, wie die Mafia ängstlich genannt wird, aus Sorge, sich sonst zu ihrer Zielscheibe zu machen.

Während das Buch wie ein klassischer literarischer Kriminalroman beginnt, entwickelt er sich immer mehr zu einer Hardboiled-Story, wie Donald E. Westlake alias Richard Stark sie geschrieben hat. Dessen Hauptfigur Parker ist stets Jäger und Gejagter zugleich, ganz so, wie auch Roths Michael Aldrian Getriebener und Treibender ist, als die Brutalität immer intensiver wird und alles auf ein knallhartes Finale zuläuft. Wird Michael das venezianische Hauen und Stechen überleben? Wer war sein Bruder überhaupt? Und findet er ihn wieder? Das sind die Fragen, aus denen das Buch seine Suspense schöpft.

Dass in der Berichterstattung über Roths neue Trilogie auch schon der Name Donna Leon gefallen ist, entbehrt nicht einer unfreiwilligen Komik. Roth dazu: „Natürlich werden einfältige Kurzschlüsse auch von Journalisten und Germanisten gezogen, damit muss man leben. Offenbar liest niemand mehr Borges oder E. A. Poe.“

Moby Dick und Goethe

Roths Roman unterscheidet sich von den Venedig-Krimis konventioneller Machart in jeder erdenklichen Hinsicht. Schicht für Schicht legt er frei, immer tiefer begibt er sich in ein Labyrinth aus Empfindungen, sowohl jenen der Figuren als auch jenen, die von den Kulturschätzen Venedigs evoziert werden. Kulturgeschichte und Krimihandlung spielen dabei kunstvoll Pingpong, wie es bei Roth Methode ist:

„Das ist nur möglich, wenn ich Stil, Handlung und Beschreibung ineinander fließen lasse. Melville hat in Moby Dick dieses Problem kühn durch Aufsplitterung in Kapitel erreicht und in seinen Reisetagebüchern dann in die Chronik eingearbeitet. Vor allem aber die wunderbare ‚Italienische Reise‘ Goethes hat mich immer wieder in Erstaunen versetzt.“

Symbolisch aufgeladenes Hintergrundrauschen

Die Venedig-Trilogie ist Roths italienische Reise: Die Stadt, der Karneval und die Kunstschätze sind das Hintergrundrauschen, das Alltäglichkeiten symbolisch auflädt und so zu düsteren Vorzeichen, zu unheimlichen Begleitern macht, immer nur fast greifbar, nie ganz, stets jedoch intuitiv erfassbar. Es geht einem in dem Roman wie vermutlich dem kleinen Gerhard im großen Venedig: Man ist ein wenig verstört, jedenfalls aber interessiert, fasziniert und hingerissen.

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