Die Liebe und die Kunst
Gerhard Roth hat es mit seinem neuen Buch „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ auf den Kunstsinn und die Nerven seiner Leser abgesehen. Spannung und Kulturbetrachtung wechseln einander ab. In einer E-Mail-Unterhaltung mit ORF.at erklärt er das Grundprinzip seines Schaffens.
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ORF.at: Sie müssen zu Venedig eine äußerst intime Beziehung haben. Wie kam es dazu?
Roth: Ich bin 1954 oder 1955 als Zwölf–, 13-Jähriger mit meiner Familie zum ersten Mal nach Venedig gefahren und sah damals zum ersten Mal den Dogenpalast und den Markusdom. Soweit ich mich erinnern kann, war ich ziemlich verwirrt: Alles um mich, auch die Vaporetti - die Wasserbusse -, war für mich ungewohnt und ein Rätsel. Wenn man mit seiner Geburt einen riesigen Irrgarten betritt, in dem man sich bis zum Lebensende aufhält, so ist Venedig für mich ein sichtbarer Teil dieses Labyrinths.
Ich konnte mir damals nichts von dem erklären, was ich gesehen habe. Die Mosaike im Markusdom verwirrten mich ebenso wie die Pracht des Dogenpalastes - die Gefängnisse besuchten wir allerdings nicht, sie hätten mich sicher noch mehr irritiert. Erst 20 Jahre später fuhr ich ein zweites Mal nach Venedig, und die wenigen Tage, die ich damals in der Stadt verbrachte, waren voller neuer Wahrnehmungen und Eindrücke.
Als ich dann nach den „Archiven des Schweigens“ mit dem „Orkus“ –Zyklus begann, floh ich zwischendurch in die rätselhafte venezianische Welt und fing an zu fotografieren und Notizen zu machen. Daraus entstand eine Leidenschaft, mehr und mehr von der Stadt zu entdecken. Insgesamt war ich 14-mal in Venedig.
ORF.at: Können Sie mir über Ihre Technik der Verschränkung von Kunst und Kulturgeschichte und der Romanhandlung erzählen?
Roth: Das ist nur möglich, wenn ich Stil, Handlung und Beschreibung ineinanderfließen lasse. Melville hat in Moby Dick dieses Problem kühn durch Aufsplitterung in Kapitel erreicht und in seinen Reisetagebüchern dann in die Chronik eingearbeitet. Vor allem aber die wunderbare „Italienische Reise“ Goethes hat mich immer wieder in Erstaunen versetzt.
ORF.at: Michael hat unglaubliche Fähigkeiten - aber auch Defizite. Ist er ein Superheld oder ein Antiheld?
Weder noch. Er ist ein Mensch, der in den Strudel von Ereignissen gerät. Er verhält sich wie ein Kunsthistoriker, der zum Militär eingezogen wird und zuletzt als Soldat in den Krieg ziehen muss, weil er keine andere Wahl hat.
ORF.at: Um bei Michael zu bleiben: Sein moralischer Kompass ist rätselhaft. Wohin schlägt er aus?
Roth: Er befindet sich in einer Notwehrsituation. Durch seinen früheren Beruf als Souffleur in der Wiener Staatsoper und bei den Salzburger Festspielen ist er es gewohnt, rasch auf Zwischenfälle im Ablauf zu reagieren. Die Aufführungen, die er von der Einstudierung an betreut, sind sein wahres Leben. Er ist Liebe, Gewalt, Unglück, Mord, Intrigen, die auf der Bühne stattfinden, gewohnt. Nun erlebt er seine eigene Oper in der Realität. Und er ist durch die Ereignisse gezwungen, ohne Partitur und Libretto auszukommen.
ORF.at: Ein Zitat: „Er begriff jedoch, dass das Rätselhafte, Unsachliche eine Art stenographischer Botschaft enthielt, die er nur über seine Empfindungen wahrnehmen konnte.“ Wäre das nicht auch eine taugliche Definition von Kunst, Kultur und Religion?
Roth: Ja, Kunst, Kultur und Religion sind im Kopf Aldrians untrennbar mit seinem Leben verbunden. Jetzt kommt auch endlich die Liebe hinzu. Sein Bruder, der begabte Illustrator von Tierlexika, gehört dazu.
ORF.at: Noch ein Zitat: „Sein eigenes Paradies war ein Gebilde aus Buchstaben, Noten und Farben, aus Musik, Büchern, Bildern und Kostümen - es war imaginär, wie er sich sagte.“ Der Himmel auf Erden: Ist er neben der Liebe auch in der Kunst zu finden?
Himmel und Hölle auf Erden - beides ist in der Kunst und der Liebe möglich.
ORF.at: Was erwartet die Leser im zweiten Teil der Trilogie? Bleibt Venedig der Schauplatz? Wird weiter aus der Sicht Michaels erzählt? Geht es weiter um Jakob und seine Frau?
Darüber verrate ich nur so viel, dass im nächsten Roman etwas ganz anderes geschieht und nur Commissiario Galli wieder auftritt.
ORF.at: Venedig und eine Kriminalhandlung: Da denkt man automatisch an Bestseller-Krimis nach dem Baukastenprinzip. Haben Sie beim Schreiben an die gedacht?
Ich kümmere mich nicht um geläufige Rezepte für Literatur. Natürlich werden einfältige Kurzschlüsse auch von Journalisten und Germanisten gezogen, damit muss man leben. Offenbar liest niemand mehr Borges oder E. A. Poe.