Das Paradigma der Prävention
Das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) liegt wie ein Satellit der Wiener Hauptuniversität in einem Dachgeschoß gleich hinter dem pompösen Ringstraßenbau der Uni selbst. Hier sitzt Thomas Macho, Leiter der Institution und Autor der soeben erschienenen Kulturgeschichte des Suizids, „Das Leben nehmen“, in einem Lehnstuhl und beantwortet die Fragen von ORF.at.
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ORF.at: Im Klappentext Ihres Buches heißt es: „Wir leben in zunehmend suizidfaszinierten Zeiten.“ Was genau meinen Sie damit?
Thomas Macho: Wir leben in einer Zeit, in der sich eine große Umwertung des Suizids anbahnt. Erst galt er nicht mehr als Sünde, dann auch nicht mehr als Verbrechen und war schließlich auch kein Kriminaldelikt mehr, wie in England noch bis 1961. Heute stehen wir an der Schwelle zur „Entpathologisierung“ des Suizids. Die Diskussion um die Liberalisierung der Sterbehilfe hat zum Beispiel mit diesem Umdenken zu tun.
Trotzdem wird die Debatte immer noch vom Paradigma der Prävention, der Verhinderung und Verhütung, dominiert. Dem Suizid haftet auch heute noch das Image einer Katastrophe an, die unbedingt verhindert werden muss. Und damit wird neuerlich stigmatisiert. Angehörige müssen sich nach einem Suizid immer wieder fragen, was sie tun hätten können, um zur Prävention beizutragen.
Thomas Macho
Geboren 1952, war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte an der Humbold-Universität, Berlin. Derzeit leitet er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.
ORF.at: Welcher gesellschaftliche Umgang mit dem Suizid würde Ihnen denn stattdessen vorschweben?
Macho: Eine Haltung des Respekts und der Anerkennung. Krankheiten können zwar tatsächlich oft eine Ursache für den Suizid bilden, aber nicht immer. Ich wünsche mir eine Abkehr von diesem Pathologisierungszwang, als müsse jeder krank sein, der sich das Leben nimmt. Es kann Gründe geben, sich das Leben zu nehmen, die nicht von Krankheiten bestimmt werden. Und die werden selten reflektiert. Den Suizid sollte man nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung betrachten, sondern eben auch manchmal unter dem Gesichtspunkt, dass er ein Ausweg sein kann. Aber das darf man ja heute fast gar nicht mehr sagen.
ORF.at: Die Faszination für den Suizid gibt es wohl schon immer - Ihr Buch bringt viele historische Beispiele dafür. Warum interessieren sich Menschen eigentlich so besonders für Tode, die „selbst verursacht“ sind?
Macho: Die Antwort ist vielleicht dieselbe, die die italienische Journalistin Roberta Tatafiore in ihrem Tagebuch gegeben hat. Sie führte es in den letzten drei, vier Monaten, bevor sie sich selbst das Leben nahm. Es ist unter dem Titel „Einen Tod entwerfen“ auch auf Deutsch erschienen.
Sie schreibt, dass jeder Mensch in Gedanken schon mal mit dem Suizid umgegangen ist. Und dieses „Mit-dem-Gedanken-umgehen-Können“ ist von vielen Autoren immer wieder als Trost beschrieben worden: nicht als Qual oder Ausdruck einer tiefen Verstimmung. Und dieses Gefühl wirkt auch im Hintergrund der Faszination für Suizide.
ORF.at: Würden Sie sagen, dass sich jeder erwachsene Mensch in Gedanken schon einmal das Leben genommen hat?
Macho: Wir Menschen gehören offenbar zu einer Klasse von Lebewesen, die sich fragen kann, ob sie eigentlich leben will. Und, ja, die meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, haben irgendwann in ihrem Leben daran gedacht, und wenn auch nur so nebenbei, bei insgesamt robuster Gesamtkonstitution, viele aber auch länger und ernsthafter. Deswegen glaube ich, dass es ganz wichtig ist, darüber reden zu können - und damit meine ich nicht nur die therapeutischen Konsultationen.
ORF.at: In den Medien ist es allerdings verpönt, über Suizide zu berichten. Man hat Angst vor Nachahmungstaten.
Macho: Wenn man wirklich konsequent verhindern wollte, dass öffentlich über den Suizid nachgedacht wird, dann müsste man ja auch sehr viel an kultureller Produktion verbieten: Opern, Romane, Theaterstücke und sehr, sehr viele Filme.

Netflix/Beth Dubber
Hannah Baker (Katherine Langford), die Hauptfigur der US-Serie „13 Reasons Why“, nimmt sich das Leben
ORF.at: Zuletzt war die US-Serie „13 Reasons Why“ („Tote Mädchen lügen nicht“) ein Anlass, dass die Medien debattierten, ob man Inhalte, die sich mit dem Thema „Suizid“ befassen, verbieten soll. Hauptfigur dieser Serie ist eine Schülerin, die sich das Leben genommen hat. Jede Folge startet mit einem Warnhinweis und mit einem Link, den man öffnen soll, wenn einen die Serie ...
Macho: ... aufwühlt. Ja.
ORF.at: Haben Sie die Serie eigentlich gesehen?
Macho: Noch nicht. Aber ich kenne das Buch, auf das sie zurückgeht. Als die Serie startete, hatte ich gerade so viel zum Thema gelesen und gesehen, dass ich auch wieder ein bisschen Abstand brauchte.
ORF.at: Trotzdem einmal konkret gefragt: Glauben Sie, dass eine Serie wie „13 Reasons“ oder ein Film oder ein Roman Auslöser sein können, dass sich Menschen das Leben nehmen?
Macho: Ich halte es für relativ unwahrscheinlich, dass Medien direkt zum Suizid verführen. Es gibt dazu eigentlich nur wenige Untersuchungen, und das statistische Material, auf das sie sich beziehen, ist mitunter zweifelhaft.
Außerdem gilt: Im Zeitalter des Internets und der globalen Verbreitung von Inhalten sind solche Zusammenhänge ohnehin kaum nachweisbar und belegbar. Und dann sollte man auch unterscheiden zwischen verschiedenen Typen von „Nachahmungssuiziden“. Da sind einmal die fiktionalen Suizide und dann die „Prominentensuizide“, die die Frage aufwerfen nach der möglichen Identifizierung mit bestimmten Helden. Auch das ist nur partiell erforscht. Es gibt einfach noch keinen gesicherten Wissensstand.
ORF.at: In Sachen „Prominentensuizid“ würden Sie es wohl auch nicht für sinnvoll halten, wenn die Medien beispielsweise verschwiegen, dass sich der Sänger von Linkin Park das Leben genommen hat?
Macho: Wie soll das gehen? Da müsste man auch alle Biografien von Kurt Cobain verbieten. Ich weiß nicht, was sich die Kritiker davon versprechen. Das Geheimhalten solcher Ereignisse ist doch eine Extremform von Stigmatisierung, die nicht nur die Fans, sondern auch und gerade die Angehörigen trifft. Ich verstehe diese Haltung nicht ganz, bei allem Respekt für die Arbeit von Therapeuten, die mit suizidalen Menschen arbeiten. Vielleicht muss man die Suche nach Schuldigen - einschließlich der Medien und kulturellen Ausdrucksformen - einschränken.
ORF.at: Sie sprechen von einem Stigma, das die Angehörigen trifft. Aber dann lesen wir in den Medien auch von einer ganz anderen „Spielart“ des Suizids. Nämlich des politisch oder religiös motivierten Selbstmordattentats, bei dem der Attentäter post mortem zum Märtyrer erklärt und verehrt wird. Woher kommt wiederum diese Todesverliebtheit?
Macho: „Todesverliebtheit“ ist da vielleicht ein guter Begriff. Er verweist auch auf bestimmte Traditionen militärischer Kriegsführung. Die ersten dokumentierten Selbstmordattentäter gab es während des Zweiten Weltkriegs in Japan, nicht nur die berühmten Kamikazeflieger, sondern auch Infanteristen mit sprengstoffgefüllten Rucksäcken.
ORF.at: Sie schreiben in ihrem Buch, dass den japanischen Kämpfern damals teilweise schon als Kindern erzählt wurde, dass sie nach dem Tod zu Sternen würden. Die erhofften sich vom Sterben einen positiven Übergang in eine bessere Existenz. Parallelen findet man bei den heutigen islamistischen Selbstmordattentätern.
Macho: Ja, man will dem eigenen Leben einen höheren Sinn verleihen.
ORF.at: Wie Sie in ihrem Buch schreiben, hat auch der Wandel der Medien dazu beigetragen, dass heute viele mit der Idee flirten, ihren eigenen Tod zu „gestalten“. So wie sie ihr eigenes Leben gestalten und online präsentieren.
Macho: Die aktuellen Prozesse der Digitalisierung und eines großen, zweiten Alphabetisierungsschubs ermöglichen es uns auf ganz neue Art und Weise, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. Das erlaubt eine Haltung zu sich selbst, in der das eigene Leben geradezu zum Werk wird, zu etwas, was gestaltet werden kann.
Jeder Werbefilm verlangt von uns, dass wir uns zu unserem Leben verhalten, dass wir ihm eine Form geben, dass wir unseren Körper „gestalten“. Dass diese Bemühungen um Gestaltung aber auch die Abrundung des Lebens implizieren können, und damit wohl auch die Fragen nach dem eigenen Tod und dem Suizid, ist ein Thema, das in der Literatur bisher selten behandelt wurde.
ORF.at: Wenn wir bei den aktuellen Möglichkeiten digitaler Selbstdarstellung sind. Auf Facebook gibt es seit Kurzem die Möglichkeit, Videos live zu übertragen. Die Folge war erschreckenderweise auch, dass Menschen sich vor laufender Kamera das Leben genommen haben.
Macho: Diese Funktion kannte ich nicht, aber sie passt schon sehr gut zu den Thesen meines Buches, dass die Menschen selbst etwas „gestalten“ und dabei gleichsam die Autorenschaft behalten wollen. Und wenn man diese Funktion im Kontext der Verbreitung von „Selbsttechniken“ denkt, dann ist sie nicht überraschend und vielleicht auch weniger „erschreckend“. Wir müssen diese Techniken differenziert betrachten und vielleicht dabei auch das verbreitete Katastrophendenken vermeiden.
ORF.at: Und wie könnte das im Einzelfall gehen? Sind nicht Angehörige automatisch entsetzt und schwer getroffen?
Macho: Ich habe mit manchen Freunden über die erlebten Suizide nahestehender Menschen gesprochen. In solchen Gesprächen wurde nicht nur Trauer ausgedrückt, sondern auch Verständnis. Diese Haltungen haben mir sehr imponiert, weil ich das Gefühl hatte, da zeigt sich auch ein Anerkennen-Können. Und das bringt mit sich, dass man selbst nicht mehr so stark das Gefühl hat, „versagt“ zu haben. Denn als Angehöriger bin ich ja ständig einem Zyklus von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen gefangen, oft ohne je in die Situation zu kommen, diese Erfahrung auch akzeptieren und respektieren zu können.
ORF.at: Wie geht es eigentlich Ihnen als Autor mit dem Thema? Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie eine Fernsehserie nicht mehr sehen wollten, weil es zu viel für Sie wurde.
Macho: Ja, die Arbeit war zeitweise schon sehr belastend. Ich versuchte in der Beschäftigung mit dem Thema Fragen, die lösbar sind, zu trennen von Fragen, die unlösbar bleiben. Und gerade die unlösbaren Fragen kann man nicht so leicht von sich weghalten wie bei anderen wissenschaftlichen Themen, so auf die Art: Wenn man ein Kapitel geschrieben hat, geht man ein Bier trinken - und alles ist wieder gut.
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Das Gespräch führte Maya McKechneay, für ORF.at