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Bunt inszenierte Denkanstöße

Auf drei Ebenen und auf über 3.000 Quadratmetern präsentiert das neue Haus der Geschichte Niederösterreich ab Sonntag die Geschichte des Bundeslandes. Vom historischen Schatzfund bis hin zum Steyr-Traktor und zum Lilienporzellan reichen die Objekte, die viel über den einstigen Alltag erzählen. Doch insbesondere leistet die neue Kultureinrichtung entsprechende Denkanstöße.

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Der Tscheche Jiri Rada hatte sich im September des Jahres 1988 eine höchst spektakuläre Art der Flucht ausgedacht. Um über den Eisernen Vorhang in den Westen zu gelangen, konstruierte er heimlich einen motorisierten Hängegleiter, den er mit dem ausgebauten Zweitaktmotor seines Trabis angetrieben hat. Gestartet ist Rada im tschechischen Adamov. Nach einem 110 Kilometer langen Flug war er in Freiheit. Rada landete in Sierndorf an der March.

Fluchthängegleiter von Jiri Rada

Daniel Hinterramskogl

Mit diesem Fluggerät gelang Jiri Rada anno 1988 die Flucht aus der CSSR in den Westen

Jetzt hängt sein Fluchthängegleiter von der Decke des neuen Hauses der Geschichte Niederösterreich, um an die Zeit des Eisernen Vorhangs zu erinnern. Das Objekt lässt erahnen, welche innere Enge das Leben im ehemaligen Ostblock erzeugt haben muss. Ebenso wie ein Wachturm aus Stahl, der direkt daneben gut zehn Meter hoch in Richtung Hallendach ragt und seine Bedrohlichkeit einst an der Grenze zur CSSR bei Raabs ausgestrahlt hat.

Projekt mit Vorbildwirkung

Mit dem Museum ist ab Sonntag das erste Haus der Geschichte Österreichs für Besucher zugänglich. Das Museum, das als Teil des Museums Niederösterreich realisiert wurde, gilt als Projekt mit Vorbildwirkung. Niederösterreich kommt damit der Republik zuvor, die nach jahrzehntelangen Diskussionen ihr Haus der Geschichte im Herbst des kommenden Jahres in der Neuen Burg in Wien voraussichtlich eröffnen wird.

Grundlegendes Vorbild ist das Haus der Geschichte in Bonn, das seit dem Jahr 1994 die deutsche Geschichte und kulturelle Identität nach dem Zweiten Weltkrieg sehr lebendig erzählt und aufgrund seiner inhaltlichen Qualitäten zum Publikumsmagneten wurde. Es ist eines der meistbesuchten Museen Deutschlands. Der Europäische Rat hat bereits Mitte der 1990er allen EU-Mitgliedsländern empfohlen, ähnliche Häuser der Geschichte zu initiieren, um sich mit der eigenen Geschichte und Identität zu beschäftigen. Diskutiert wurde viel, doch richtig eilig hatte es damals niemand.

„Sportliches Vorhaben“

Das Land Niederösterreich ist sein Haus der Geschichte in durchaus bemerkenswertem Tempo angegangen. Stefan Karner, Historiker an der Universität Graz und der wissenschaftliche Leiter des neuen Museums, sprach im Zuge der Presseführung von einem sehr „sportlichen Vorhaben“. Drei Jahre hat es vom Landtagsbeschluss zum Projekt bis zur Eröffnung gedauert. Ein wissenschaftlicher Beirat aus 92 nationalen und internationalen Experten begleitet das Museum. Mit einer Vielzahl an Kooperationen mit anderen Museen soll ein vitaler Museumsbetrieb etabliert werden. Karner spricht von einer „kulturellen Pionierarbeit“. Investiert wurden drei Millionen Euro.

Ausstellungsraum im Haus der Geschichte

Niki Gail/ÖAW

Die Dauerausstellung ist in 13 thematisch geordnete Cluster eingeteilt und lädt so zum eigenen Entdecken ein

Ein Teil Zentraleuropas

Das Haus der Geschichte gibt sich betont zeitgemäß und inszeniert ein Spektrum der niederösterreichischen Landesgeschichte von der frühesten Siedlungsgeschichte bis zu den Migrationsbewegungen des Jahres 2015. Vor allem wird Niederösterreich nicht als isoliertes Bundesland Österreichs, sondern als Teil Zentraleuropas betrachtet und vermeidet damit museale Provinzialität. Niederösterreich setzt sich in Kontext und zeichnet ein selbstbewusstes Bild.

Brüche und Kontinuitäten

Dem Haus geht es um das Verstehen von Zusammenhängen. Statt chronologischer Strukturierung wird auf thematische Zusammenfassungen gesetzt. Gesellschaftliche Brüche und Kontinuitäten werden sichtbar gemacht. Machtstrukturen und wie sie funktionieren, sind in diesen 13 Clustern der Dauerausstellungen ebenso Thema wie die Industrialisierung Niederösterreichs, Religion als prägender kultureller Faktor und die verheerende Wirkung der Weltkriege.

Niederösterreichs Stellung im Netzwerk der Konzentrationslager in Europa wird dabei ebenso thematisiert wie die Auswirkungen des Luftkriegs auf die Bevölkerung. Ein bei einem Todesmarsch der Nazis getragener Schuh mahnt als einer der zentralen Ausstellungsgegenstände des Weltkrieg-Clusters an den Nazi-Terror.

Generell sehr objektbezogen, um dahinterstehende Geschichten zu erzählen, entsteht ein buntes wie breites Spektrum mit einem Fokus auf Zeitgeschichte. Mitunter sind es Alltagsgegenstände, die von einst erzählen. Vorab war auch die niederösterreichische Bevölkerung aufgerufen, historisch wertvolle Objekte beizusteuern.

Traktor und Drahtschere

Ein Steyr-Traktor 80a, der ab den 1950er Jahren für viele Bauern Niederösterreichs eine Revolution bedeutet hat, vermittelt die Vergangenheit ebenso wie eine von Joseph II. benutzte Handdruckpresse oder eine Luther-Bibel, die erst vor wenigen Jahren in einem evangelischen Pfarrhaus entdeckt wurde. Auch der 2010 ausgegrabene Schatz von Wiener Neustadt, bestehend aus Schmuckstücken und Tafelgeschirr, der rund um 1400 versteckt wurde, wird ausgestellt - und jene Drahtschere, mit der Alois Mock anno 1989 symbolträchtig den Eisernen Vorhang durchtrennt hat.

Schatz von Wiener Neustadt

Landessammlung Niederösterreich/Atelier Olschinsky

Vergraben rund um 1400 nahe der Wiener Neustädter Stadtmauer, kam der Schatz 2010 wieder zum Vorschein

In Summe sind es über 2.000 Objekte, die auf drei Ebenen für eine kurzweilige Aufarbeitung niederösterreichischer Identität und Geschichte sorgen. Die mitunter sehr verwinkelte Ausstellungsarchitektur nimmt immer wieder thematische Bezüge. In der ersten Schwerpunktausstellung des Hauses der Geschichte, die dem nach wie vor historisch unterbeleuchteten Thema der Ersten Republik gewidmet ist, verengt sich der Raum, je näher der Austrofaschismus der 1930er Jahre rückt.

Flexible Modulbauweise

Die Darstellung der wirren Zeit der 1920er Jahre, die so gar keine Richtung finden wollten und von Krisen gezeichnet waren, wird mit vermeintlich gedankenlos im Raum positionierten Schauvitrinen zusätzlich verstärkt. Und insbesondere die Lichtinszenierungen, die vieles zum Grundcharakter des gesamten Hauses beitragen, demonstrieren eine zeitgemäße Museumsgestaltung.

Ausstellungsraum im Haus der Geschichte

Niki Gail/ÖAW

Die erste Schwerpunktausstellung im Haus der Geschichte ist der Ersten Republik gewidmet

Die Schwerpunktausstellung über die Erste Republik, der 600 Quadratmeter gewidmet sind, wird voraussichtlich mindestens zwei Jahre zu sehen sein. Die Modulbauweise der Dauerausstellung erlaubt im Sinne eines lebendigen Museums baulich einfach zu handhabende thematische Erweiterungen.

Die Jugend im Fokus

Man hoffe auf jährlich rund 100.000 Besucherinnen, und vor allem sei es ein großes Anliegen, viele junge Leute in das Haus der Geschichte zu locken, sagte Karner. Was durchaus gelingen sollte. Mitunter ist das Haus der Geschichte bunt wie ein Wimmelbild und setzt viele Themen sehr plakativ in Szene. Entdeckungen und Erfindungen spielen ebenso eine Rolle, wie auf diverse soziale Gruppen und Ethnien und deren historische Stellung eingegangen wird. Aber auch das Entstehen von Herrschaftsstrukturen, wie sie legitimiert, kontrolliert oder zu Fall gebracht werden, wird auf interaktivem Weg sehr einfach und verständlich vermittelt, was in Summe die Latte hinsichtlich der Präsentation zeitgeschichtlicher Themen durchaus hoch legt.

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