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Die sitzen alle in der Nationalismus-Falle

Robert Menasse spricht im Interview mit ORF.at über seinen neuen Roman, die Nationalratswahlen in Österreich, die Widersprüche in der Konstruktion der EU, warum ein Verbleiben von Großbritannien die Union zerrissen hätte und natürlich über Schweine.

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ORF.at: Ist die EU noch zu retten?

Robert Menasse: Nach einem Satz von Jean Monnet entwickelt sich das europäische Einigungsprojekt immer nur in Krisenzeiten weiter. Die Situation der EU war ja schon höchst problematisch und unbefriedigend, vor allem demokratiepolitisch, als landläufig noch die Meinung herrschte, sie ist zwar ein träger Koloss, aber irgendwie funktioniert sie.

Seit 2010 aber taumelt Europa evident von einer Krise in die nächste, diese Krisen akkumulieren sich, wachsen. Wenn Jean Monnet Recht hatte, dann sind diese Krisen die Rettung. Sie werden einen Druck produzieren, der bei Gefahr des sonstigen Untergangs zu einer Reform der EU wird führen müssen.

ORF.at: Was bedeutet der „Brexit“ Ihrer Meinung nach für die EU?

Menasse: Eine Chance. Etwas Hoffnung in Hinblick auf die notwendige Rettung. Ich habe vor dem Referendum viele Kommissionsbeamte der Arbeitsebene getroffen, die haben die Daumen gedrückt, dass die Engländer für den Austritt stimmen. Die hatten eben ihre Erfahrungen.

Das Vereinigte Königreich hat Gemeinschaftspolitik immer nur blockiert oder Ausnahmen beansprucht, und im Fall des Verbleibs in der EU noch mehr Ausnahmen zur Bedingung gemacht, sie haben bei den großen Errungenschaften der EU nicht mitgemacht, wie etwa bei Schengen oder beim Euro, sie waren nie ein konstruktives Mitglied, sondern der Querulant im Club. Die Geschichten, wie die Engländer die Arbeit der Kommission obstruierten oder verkomplizierten, füllt Bände.

Vielleicht wird jetzt manches leichter und rationaler. Und eines ist ganz sicher – was niemand bedenkt und in der ganzen „Brexit“-Debatte nie wirklich vorkam: Wäre UK in der EU geblieben, wäre die EU definitiv gescheitert. Denn vor dem Referendum sagte der österreichische Außenminister: Wenn die Abstimmung für „Remain“ ausgeht, dann wird Österreich sofort auch alle die Ausnahmen für sich beanspruchen, die den Engländern zugesprochen wurden. Kurz darauf tönte das auch aus Ungarn, aus Polen und so weiter. Das hätte Zentrifugalkräfte produziert, die die EU zerrissen hätten.

ORF.at: Sie beschreiben in Ihrem Roman die EU-Politik als gefangen in einem Netz von nationalen Interessen. Was müsste sich ändern, damit sich hier etwas bewegt?

Menasse: Der Europäische Rat müsste entmachtet werden, diese Wagenburg der Verteidigung der nationalen Interessen. Der Rat ist die mächtigste Institution der EU, das ist unerträglich, das ist der Grundwiderspruch: Man kann keine Gemeinschaftspolitik machen, also eine nachnationale Entwicklung gestalten, aber den nationalen Staats- und Regierungschefs die letzte Entscheidung darüber überlassen. Alle Krisen sind Folge dieses Widerspruchs. Zuletzt das Scheitern einer gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik.

ORF.at: In Österreich stehen Nationalratswahlen bevor. Welcher österreichischen Partei trauen Sie am ehesten zu, an so einem Prozess sinnvoll mitzuarbeiten?

Menasse: Keiner. Die sitzen alle in der Nationalismus-Falle. Aus zwei ineinander greifenden Gründen: Kein Politiker, der zur Wahl steht, kandidiert als Europapolitiker. Jeder weiß, er wird nur national gewählt und er muss deshalb die Chimäre aufrechterhalten, dass er nationale Interessen verteidigen werde. Aber wenn er gewählt ist, dann befindet er sich plötzlich auch in europapolitischer Verantwortung.

Umgekehrt wählt niemand bei nationalen Wahlen unter dem Gesichtspunkt, dass die Männer und Frauen, die dann in der Regierung sitzen, auch Sitz und Stimme in Brüssel haben. Aus dieser Konstellation kann nur eine Blockade entstehen: Die Parteien sind jederzeit bereit, auch EU-Recht zu brechen, wenn es national ein paar Stimmen bringt, zum Beispiel durch die Verteidigung des nationalen Arbeitsmarktes, und die Wähler erwarten sich von den Parteien nationale Lösungen für alle Probleme, so wie es ihnen versprochen wurde, die es aber nicht geben kann, weshalb sie mit wachsender Frustration nach konsequenteren, nach radikaleren nationalistischen Politikern Ausschau halten. Auf diese Weise entsteht eine Blockade in der Europapolitik bei gleichzeitiger Vergiftung des innenpolitischen nationalen Klimas.

Das ist jetzt so. Und man muss endlich begreifen: Der Nationalismus, die wachsende Renationalisierung kommt nicht vom rechten Rand, sondern aus der Mitte des Systems. Hat nicht zum Beispiel der österreichische Außenminister in Brüssel eine gemeinsame europäische Asylpolitik mitverhindert, um dann zu Hause zu verkünden: die EU funktioniere nicht, aber er werde für eine nationale Lösung sorgen? Ist das unbemerkt geblieben, oder vergessen?

ORF.at: Sie haben lange an „Die Hauptstadt“ gearbeitet. Wie und wann haben Sie den Schnitt gemacht und aufgehört, die neuesten Entwicklungen miteinzubeziehen?

Menasse: Der Roman ist ja keine Reportage. Da geht es nicht um Tagesaktualität und „neueste Entwicklungen“. Da geht es darum, wie die Welt grundsätzlich funktioniert, und wie man das erzählen kann. Wie entsteht in diesem Gefüge eine Idee, ein Plan, ein Projekt, und wie scheitert es, und warum. Das habe ich zu erzählen versucht. Aber weil ich auch die Stimmung in der Kommission wiedergeben wollte und da einiges mitbekommen habe, klingt in meinem Roman auch schon der „Brexit“ an, obwohl das Buch vor dem Referendum fertig wurde.

ORF.at: Mit dem greisen Prof. Alois Erhart haben Sie Ihrem Buch einen Charakter eingeschrieben, der - über die EU und wie sie sein soll - Überzeugungen vertritt, die auch aus Ihren Reden stammen könnten. Erhart ist schockiert über die Visionslosigkeit seiner Fachkollegen. Sehen Sie - wie er - das Problem darin, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten so im Status quo gefangen sind, dass sie sich ein nach-nationales Europa gar nicht mehr vorstellen können?

Menasse: Die Rede von Prof. Erhart im Buch könnte nicht von mir sein, denn sie ist viel radikaler als alle Reden, die ich bei Europakongressen gehalten habe. Aber es stimmt: Die politischen Eliten managen pragmatisch den Status quo, aber sie haben die Idee der Gründerväter vergessen oder nie begriffen, und sie haben kein Ziel, keine Vision, keine Vorstellung davon, worauf wir sinnvollerweise hinauswollen. Das ist eine verlorene politische Generation, sie gestaltet nicht Zukunft, sondern versucht nur hilflos die Gegenwart zu verlängern. Ich bin gespannt, was sie tun werden, wenn sie vor dem Abgrund stehen. Ich hoffe, dass Jean Monnet recht hat.

ORF.at: Immer wieder kommt ein Schwein im Buch vor und geistert sozusagen als Schreckgespenst durch Brüssel. Die sogenannten PIIGS-Staaten sind nur in Form von Griechenland (Erhart erwähnt das Kaputtsparen des griechischen Sozialsystems) kurz ein Thema. Gibt es hier eine Verbindung?

Menasse: Ja, sicher. Ich halte übrigens das Kürzel PIIGS als Bezeichnung für Staaten für bedeutsam zynisch. Im Übrigen ist das Schwein ja eine Universalmetapher: vom Glücksschwein bis zur Drecksau kann man in vielfältigster Weise alles Menschliche mit einem Schwein in Verbindung bringen, das Glück und das Verhängnis, das Putzige und das Abstoßende, das Wolllüstige und das Unreine und so weiter. Deswegen läuft das Schwein durch Brüssel und verbindet all die Widersprüche, zumindest metaphorisch. Aber wer weiß, vielleicht ist das Schwein im Roman letztlich das, was Adorno den „Rätselrest in der Kunst“ genannt hatte.