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„Ein mitteleuropäisches Problem“

Österreichs Unternehmen betrachten den Mangel an Fachkräften als ihr größtes Problem. Und es spitzt sich weiter zu: Jeder zweite Betrieb beklagt deshalb bereits Umsatzeinbußen. Regional und saisonal unterliegt der Arbeitsmarkt allerdings starken Schwankungen - was ein effizientes Gegensteuern erschwert. Dazu kommt, dass es in den Nachbarländern nicht besser aussieht.

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Elf Mangelberufe gibt es derzeit, darunter versteht man die jährlich von Sozialministerium und Arbeitsmarktservice (AMS) festgelegten Jobs, für die es nicht genügend Bewerber bei offenen Stellen gibt. Fräser, Dreher und Dachdecker zählen dazu, vorwiegend aber sind es Techniker und Diplomingenieure, die gelistet sind.

50 Prozent mehr offene Stellen als vor einem Jahr

Nächstes Jahr, sagte AMS-Chef Johannes Kopf im Gespräch mit ORF.at im August, dürfte diese Liste mindestens doppelt so lang werden - schließlich gebe es dank des Konjunkturaufschwungs um 50 Prozent mehr offene Stellen als vor einem Jahr. Kopf: „Wenn sich die Konjunktur erholt, kann sich die Debatte schnell von Rekordarbeitslosigkeit in Richtung Arbeitskräftemangel verlagern.“ Martin Gleitsmann, Abteilungsleiter Sozialpolitik und Gesundheit der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), geht für 2018 von noch deutlich mehr vorgemerkten Berufen aus, mit Stand Juli dieses Jahres wären es 58.

AMS Österreich Chef Johannes Kopf

picturdesk.com/EXPA/Michael Gruber

Kopf: „Spitzenleute können wir immer brauchen“

In mehr als drei Bundesländern fehlt es unter anderem an Elektroinstallateuren, Kfz-Mechanikern, Schlossern, Starkstromtechnikern, Grobmechanikern, Bau- und Möbeltischlern und Ärzten. Doch könne diese Liste nur eine Annäherung sein, sagte Kopf: Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt sei nämlich nicht nur eine Frage von Qualifikationen, sondern unterliege auch starken regionalen und saisonalen Schwankungen.

Starke regionale Unterschiede

Im Tourismus sei das teils „systemimmanent“, sagte Kopf: „Wir machen gerne Urlaub, wo viel Natur ist, wo viel Natur ist, leben wenige Menschen, somit gibt es dort zu wenige Arbeitskräfte.“ Dazu komme, dass es im Fremdenverkehr starke „Saisonkomponenten“ gebe. Freilich nicht nur dort: Während am Bau in der warmen Jahreszeit händeringend nach Personal gesucht werde, gebe es im Winter kaum Jobs.

Wie stark die regionalen Unterschiede sind, zeigt sich laut Kopf etwa an diesen Zahlen: In Oberösterreich, Tirol und Salzburg gibt es rund doppelt so viele Arbeitssuchende wie offene Stellen, in Wien liegt das Verhältnis bei 14:1, auf einen freien Posten kommen also potenziell 14 Bewerber. „Die Arbeitslosigkeit wird umso größer, je weiter man nach Osten schaut, der Arbeitskräftemangel umso größer, je weiter man nach Westen schaut“, hielt auch Gleitsmann fest.

Tischler

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Auch an Tischlern fehlt es in manchen Bundesländern

Der Schlüssel zur Mangeldefinition

Als Mangelberufe kommen Berufe in Betracht, für die pro beim AMS gemeldeter offener Stelle höchstens 1,5 Arbeitsuchende vorgemerkt sind. Nicht-EU-Bürgern, die ausgebildete Fachkräfte sind, wird durch die Mangelberufsliste mittels Verleihung der Rot-Weiß-Rot-Karte ein Arbeitsmarktzugang ermöglicht. Das Problem dabei: Die Auswertung erfolgt nur bundesweit, regionale Fachkräfteknappheit wird nicht berücksichtigt. Gleitsmann: „Wenn im Westen verzweifelt nach Kellnern gesucht wird, es in Wien aber viele arbeitslose Kellner gibt, wird das nicht als Mangelberuf definiert. Gleichzeitig ist die überregionale Vermittlung ganz schwierig, beziehungsweise findet gar nicht statt.“

In einigen Bundesländern sei der Bedarf aber schlicht viel stärker als bundesweit, sagte Gleitsmann. So gebe es etwa in Oberösterreich knapp 100 Berufe, bei denen weniger als 1,5 Arbeitslose auf eine gemeldete offene Stelle kämen. Ähnlich sei die Situation in Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Beispielsweise standen 2016 in Oberösterreich im Jahresschnitt 213 arbeitslose Elektrotechniker 520 offenen Stellen für Elektrotechniker gegenüber. Bei den Köchen in Tirol kamen auf 100 offen gemeldete Stellen 55 Arbeitsuchende. Auf der anderen Seite waren in Wien 987 arbeitslose Elektroinstallateure vorgemerkt, offene Stellen gab es aber nur 97.

Martin Gleitsmann, Abteilungsleiter Sozialpolitik und Gesundheit der WKÖ

WKÖ

Gleitsmann beklagt die fehlende Treffsicherheit der Mangelberufsliste

Unleugbar, darin sind sich Gleitsmann und Kopf einig, sei der Mangel an qualifiziertem Personal in der IT-Branche. So kamen im Jahr 2016 bei Technikern mit höherer Ausbildung für Datenverarbeitung etwa in der Steiermark 100 offene Stellen auf 40 Bewerbungen, auch österreichweit gab es einen deutlichen Mangel. Und der Trend dürfte sich verschärfen: Laut der mittelfristigen WIFO-Beschäftigungsprognose bis 2020 wird in Österreich die „Zahl der Beschäftigungsverhältnisse im Bereich der Informationstechnologie und -dienstleistungen um 7.500 (+4,4 Prozent pro Jahr) steigen“.

Alle Jobs künftig „von IT durchdrungen“

Kopf rät dazu, in dem Bereich vermehrt auf Frauen zu setzen, derzeit seien diese stark unterrepräsentiert. Schon in der Schule müsste bei Mädchen das technische Interesse geweckt und vertieft werden, noch immer würden im Bildungssystem viel zu häufig „falsche Schienen gelegt“. Kopf verweist auf das FiT-Programm des AMS: Frauen mit technischem Interesse, die eher in klassischen Sparten wie Handel und Tourismus tätig seien, werden dort im Bereich Handwerk und Technik gefördert und geschult; jährlich durchliefen 2.500 bis 3.000 Teilnehmerinnen das Programm. Nicht nur bessere Verdienstmöglichkeiten seien in dem Bereich für Frauen interessant, sagte Kopf, auch Teilzeitstellen, flexible Arbeitszeiten und Teleworking wären einfacher machbar.

Der AMS-Chef betonte, dass die Verfügbarkeit qualifizierter Techniker auch im internationalen Standortwettbewerb entscheidend sei. Letztlich betreffe die Digitalisierung aber zunehmend alle unsere Jobs, diese würden „von IT durchdrungen“. Kopf: „Die Rezeptionistin muss sich heute mit Buchungsplattformen oder Kundenbewertungssystem auskennen, der Lagerarbeiter die Lagerlogistiksoftware beherrschen.“ Daraus ergebe sich ein Qualifizierungsbedarf über alle Branchen hinweg.

Umsatzeinbußen aufgrund von Fachkräftemangel

Handlungsbedarf besteht laut Wirtschaftskammer dringend, der Fachkräftemangel spitze sich immer weiter zu: Dem Mittelstandsbarometer 2017 des Beratungskonzerns Ernst & Young zufolge haben drei Viertel der österreichischen Unternehmen Schwierigkeiten dabei, geeignetes Personal zu finden – Tendenz steigend. Jedes zweite Unternehmen beklagt deshalb bereits Umsatzeinbußen. Laut WKÖ-Wirtschaftsbarometer nennen knapp 74 Prozent der befragten Unternehmen den Fachkräftemangel als größte Sorge für die kommenden zwölf Monate, andere Aspekte wie Bürokratie, Konkurrenzdruck und hohe Abgaben belasten im Vergleich weniger.

Länder eingefärbt nach Höhe der Arbeitslosenquote im Juni

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/Eurostat

Alarmstimmung auch in Deutschland

Erschwerend bei der Suche kommt hinzu, dass Österreich von Ländern umgeben ist, wo teils noch größerer Mangel an Fachkräften herrscht, etwa Deutschland. Tschechien weist de facto eine Vollbeschäftigung auf, sagte Gleitsmann, auch in Ungarn und Polen war die Arbeitslosigkeit zuletzt niedriger als in Österreich. Gleitsmann: „Die Länder brauchen selbst ihre Leute, daran ändert auch das vielleicht noch vereinzelt vorhandene, zarte Lohngefälle nichts.“ Neuerdings gebe es sogar Bemühungen tschechischer Firmen, aus Deutschland abzuwerben. Dort schlug dieses Jahr das Forschungsinstitut Prognos Alarm: Bis 2030 könnte sich die Zahl der fehlenden Facharbeiter, Techniker, Forscher und medizinischen Fachkräfte auf bis zu drei Millionen belaufen, bis 2040 gar auf 3,3 Millionen.

Beim diesjährigen Forum Alpbach waren auch Kassandrarufe von österreichischen Wirtschaftslenkern zu vernehmen: Der Fachkräftemangel könnte negative Folgen für das Produktivitätswachstum haben. „Wir brauchen viel mehr IT-Fachkräfte und finden sie in Österreich nicht mehr“, sagte etwa T-Mobile-Austria-Chef Andreas Bierwirth. Die Erste Group sucht mehrere tausend Programmierer, hat laut Unternehmenschef Andreas Treichl aber bisher nur 500 gefunden. Das Problem der fehlenden Fachkräfte habe sich mittlerweile zu einem „zumindest mitteleuropäischen“ ausgewachsen, sagte Gleitsmann. Seine vage Hoffnung: „Vielleicht kommen aus Großbritannien nun einige zurück.“

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