Ermittlungen enden nach fast drei Jahren
Das ganze Ausmaß der Verbrechen ist erst nach und nach ans Licht gekommen: Niels H. der ehemalige Krankenpfleger aus dem deutschen Bundesland Niedersachsen, könnte nun bald erneut vor Gericht stehen. Ihm wird eine der größten Mordserien des Landes zu Last gelegt. Wie die Ermittler der Sonderkommission (SoKo) Kardio aus deutscher Polizei und Staatsanwaltschaft am Montag bekanntgaben, soll H. 84 weitere Morde begangen haben. Bisher waren mindestens 36 bekannt.
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Für den Tod von sechs Patienten musste sich H. bereits 2014 vor Gericht verantworten. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzt nun seine Strafe ab. Erst später begannen die Ermittlungen zu weiteren möglichen Verbrechen. Deutlich mehr Taten gestand er bereits im ersten Prozess.
Mehr als 100 Exhumierungen
Nach beinahe drei Jahren gab die SoKo nun den Abschluss ihrer Arbeit bekannt. Die Ermittler hatten Hunderte Patientenakten ausgewertet und mehr als 100 Leichen ausgegraben, um diese auf Rückstände von Medikamenten zu testen.

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Die SoKo Kardio schloss ihre Ermittlungen ab. Polizeipräsident Kühme (2. v. r.): „Fassungslos“
Die Dimension der Verbrechen mache „fassungslos“, sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme. Es handle sich nur um die Fälle, bei denen die Beweislage so eindeutig sei, dass eine Anklage wahrscheinlich sei. Viele weitere könnten nicht mehr nachweisbar sein, etwa weil verstorbene Patienten feuerbestattet worden seien. Die Ermittlungen seien auch noch nicht völlig beendet. So stünden die Ergebnisse der toxikologischen Analysen von 41 exhumierten verstorbenen Patienten noch aus.
Auf frischer Tat ertappt
Die Taten von H. ereigneten sich zwischen 2003 und 2005 in zwei Kliniken in den Städten Delmenhorst und Oldenburg. Er soll schwerkranken Patienten verschiedene Medikamente verabreicht haben, die Herzversagen oder einen Kreislaufkollaps auslösten. Dann belebte er die Schwerkranken wieder, um als Retter vor seinen Kollegen dazustehen.
Weil jedoch auffällig viele Patienten während der Schichten von Niels H. starben, gab es an beiden Kliniken Gerede. In Delmenhorst lagen nach Ansicht der Staatsanwaltschaft aber auch konkrete Hinweise vor, dass er Patienten tötete. Doch erst als eine Kollegin Niels H. 2005 auf der Delmenhorster Intensivstation auf frischer Tat erwischte, nahmen die Morde ein Ende.
Morde „hätten verhindert werden können“
Zwei frühere Oberärzte und der Stationsleiter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht stehen. Die Ermittlungen gegen Verantwortliche am Klinikum Oldenburg laufen noch. „Die Morde hätten verhindert werden können“, sagte Kühme. Die damals Verantwortlichen hätten aus Sicht der Ermittler schneller handeln und Unterstützung suchen sollen. „Im Klinikum Oldenburg wusste man um die Auffälligkeiten“, sagte Kühme.

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Das Klinikum Oldenburg war einer der beiden Tatorte H.s
Doch auch die Staatsanwaltschaft stand in der Kritik. Obwohl es nach dem ersten Urteil Beweise gab, dass deutlich mehr Todesfälle auf das Konto von Niels H. gehen, kam es zu keiner neuen Anklage. Das passierte erst Jahre später, nachdem Angehörige der Opfer nicht lockergelassen und eine andere Oberstaatsanwältin den Fall übernommen hatte. Der damals zuständige Oberstaatsanwalt wurde später angeklagt, weil er die Ermittlungen verschleppt haben soll. Zum Prozess kam es aber nicht. Ein neuer Prozess ist nun wahrscheinlich. Das Strafmaß - lebenslang - ist allerdings nicht steigerbar.
Scharfe Kritik von Patientenschützer
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte am Montag „ein großes Versagen“ im Umfeld des Mannes. „Sowohl Kolleginnen und Kollegen, Arbeitgeber als auch Polizei und Justiz haben zu lange weggeschaut“, so Vorstand Eugen Brysch in Dortmund. Er sprach zugleich davon, dass der Fall „wohl die größte Mordserie in Nachkriegsdeutschland“ sei.
„Es waren vor allem Angehörige und Journalisten, die die Mauer des Schweigens durchbrochen haben“, erklärte Brysch. „Aber immer noch machen wir es Tätern in Krankenhaus und Pflegeheim zu leicht, denn wirksame Konsequenzen wurden bis heute nicht gezogen.“ In vielen der deutschlandweit 2.000 Krankenhäuser seien „die Kontrollmechanismen nicht verschärft“ worden.
So fehle „für die meisten Kliniken weiterhin ein anonymes Meldesystem“. „Whistleblower müssen ihre Beobachtungen aber einer unabhängigen und externen Stelle melden können, ohne Angst vor beruflichen Konsequenzen zu haben“, sagte Brysch. Zudem gelte es, „eine Kultur des Hinschauens auf allen Ebenen im Krankenhaus zu verankern - von Pflegekräften über Ärzte bis hin zum Management“.
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