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Von Karteileichen und Verschwörern

Heinz Sichrovsky, „News“-Kulturchef, Moderator der ORF-III-Büchersendung „Erlesen“, studierter Germanist und als solcher Experte für die Kulturgeschichte der Freimaurer, im Gespräch mit ORF.at über Verschwörungstheorien - und echte Spuren, die die Freimaurer hinterlassen haben.

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ORF.at: Wie viel Einfluss haben die Freimaurer?

Heinz Sichrovsky: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Nehmen wir das Rote Wien der Zwischenkriegszeit, angeblich ein Produkt der Freimaurer. Die Wahrheit ist, dass eben viele sozial kompetente Menschen Freimaurer waren, unter ihnen auch einige bedeutende Repräsentanten des Roten Wiens. Im 18. Jahrhundert, die Reformen Maria Theresias, die Bildungsreform, die Abschaffung der Folter, das haben alles Freimaurer auf den Weg gebracht.

ORF.at: Obwohl gerade Maria Theresia die Freimaurerei verboten hat.

Sichrovsky: So ist es. Das ist eine lustige Geschichte. Ihr Gatte, Franz Stephan von Lothringen, ist in Den Haag, lange bevor er sie geheiratet hat, aufgenommen worden. Damit war die höchste weltliche Autorität des christlichen Abendlandes theoretisch exkommuniziert. Dann hat er die Maria Theresia geheiratet. Das gibt’s nur in Österreich. Er hat die päpstlichen Sanktionen schlicht ignoriert und gesagt: „Das gibt’s in meinem Reich nicht.“ Er hat nie eine freimaurerische Arbeit in Wien besucht, aber er hat die Hand drüber gehalten, und deshalb wurde es zum Statussymbol, sich dem Bund anzuschließen. Sonnenfels oder Ignaz von Born zum Beispiel, die ihre Reformen aber wohl genauso durchgeführt hätten, wenn sie keine Freimaurer gewesen wären. In der Loge traf sich eben eine intellektuelle Elite. Allerdings nicht nur. Man spricht immer von Mozart und Haydn. Aber wie viele Mozarts und Haydns gibt es? Man darf da weder dämonisieren noch idealisieren.

Nach dem Tod des Kaisers wollte Maria Theresia dann gegen die Freimaurer vorgehen, aber es war schlicht zu spät – sie saßen, mit durchaus segensreichen Folgen, an den Hebeln der Macht. Finster wurde es für sie erst später, vor allem unter Franz II.

ORF.at: Und was ist kulturgeschichtlich geblieben von 300 Jahren Freimaurerei?

Sichrovsky: Zum Beispiel die Klopfzeichen in Mozarts „Zauberflöte“. Es sind ein paar explizite Logengedichte von Goethe geblieben. Es ist herrliche Freimaurerlyrik von Matthias Claudius und Rudyard Kipling geblieben. Und dann muss man schon sehr nachdenken und wird am ehesten Lessing nennen, und eine Unzahl an Kleinmeistern finden, die begeistert für die Loge gedichtet haben.

ORF.at: Also ist es nicht so, dass man hinter jedem zweiten Buch Freimaurerprosa vermuten muss, obwohl man als Nicht-Eingeweihter die Symbolik nicht versteht?

Sichrovsky: Nein. Es gibt Bücher, die jedem geheimnisvollen Akkord bei Mozart einen Subtext unterschieben. Das ist völliger Vollholler. Das stimmt nicht im geringsten. Aber Mozart war begeisterter und treuer Freimaurer, obwohl sich das Verbot bereits angebahnt hatte und viele andere austraten. Mozart ist bis zu seinem Tod Freimaurer geblieben, obwohl ihm das am Ende eher Nach- als Vorteile gebracht hat. „Die Zauberflöte“ schrieb er in seinem Todesjahr, da war kein namhafter Mensch mehr Mitglied.

Es gibt Überraschungen, die hauen einen aus den Schuhen. Ich bin Germanist und habe in meiner Studienzeit die „Wahlverwandtschaften“ von Goethe gelesen. Damals wusste ich nicht, dass die seitenweise voll sind von freimaurerischer Ritualistik. Symbole, Werkzeuge, ganze Ritualzitate, etwa: „Es ist Hochmitternacht.“ Goethe hat sich gern solche Scherze erlaubt.

Aber der größte Freimaurerlyriker war wahrscheinlich Kipling. Der war in Indien Freimaurer, in Lahore. Dort gab es blutige religiöse Konflikte. In der Loge waren jedoch alle friedlich vertreten. Nach seiner Übersiedlung nach England hat er nie wieder eine Loge betreten. Trotzdem ist sein Werk voll der Symbolik. Die Aufnahme Mowglis in das Wolfsrudel etwa gleicht der Aufnahme eines Novizen in eine Loge. Aber so etwas gab es nicht oft.

Viele Große waren Karteileichen, die nie zu den Treffen gegangen sind. Heinrich Heine etwa. John Steinbeck. Mark Twain. Die waren als ganz junge Leute kurz dabei. Arthur Conan Doyle, der „Sherlock Holmes“-Autor, ist ebenfalls ein Beispiel.

ORF.at: Und heute?

Sichrovsky: Das kann man nicht sagen, weil man ja immer erst nach dem Ableben weiß, wer dazugehört hat. Aber ich bezweifle, dass es irgendeine Kulturinstitution gibt oder je gab, die in Freimaurerhand ist. Außerdem gab es einen Knacks. Nach dem Krieg kann man eine interessante Population freimaurerischer Schriftsteller beobachten. Friedrich Torberg und Milo Dor etwa, Ernst Schönwiese oder Michael Guttenbrunner. Aber im 68er-Jahr war es vorbei, Wolfgang Bauer war der einzige Freimaurer aus der Gigantengeneration um Bernhard oder Handke.

Die Freimaurerei ist ja eine bürgerliche Bewegung, die 68er waren antibürgerlich. Sie haben die Frauenbewegung propagiert. Dass das nicht zusammengepasst hat, liegt auf der Hand. Die 68er waren dialektische Materialisten, die Freimaurerei hingegen hat esoterische Aspekte mit ihren Symbolen und Ritualen. Auch Grass oder Böll waren keine Freimaurer. Hier dürfte eine Traditionslinie abgerissen sein.

ORF.at: Führt die ganze Geheimniskrämerei nicht zwangsläufig zu Verschwörungstheorien?

Sichrovsky: Ja sicher. Historisch ist die sogenannte „Deckung“ erklärbar durch die Verfolgung der Freimaurer.

Kaiserin Zita hat verbindlich erklärt, die Freimaurer haben Kronprinz Rudolf umgebracht, der sich jedoch selbst getötet hat. Es wurde verbindlich mitgeteilt, die Freimaurer hätten den Ersten Weltkrieg angezettelt, um die Weltmacht zu erringen, und hätten Franz Ferdinand auf dem Gewissen. Es gibt keine Revolution, keinen Königsmord, keine insubordinative Bewegung, von der es nicht hieße, die Freimaurer würden dahinterstecken.

Es gibt Leute, die glauben, die „jüdisch-freimaurerisch-bolschewistische Weltverschwörung“, die schon von den Nazis als Einheit gesehen wurde, habe die Anschläge von 9/11 geplant. Es heißt, sie würden die Weltfinanzen dirigieren. Meine persönliche Preziose ist das Buch „Logenmord Jörg Haider“ aus dem einschlägig beliebten Kopp Verlag. Da wird der Nachweis geführt, dass die Freimaurer Jörg Haider umgebracht hätten, weil er sich von ihnen abgewandt habe. Der war keine Spur von einem Freimaurer!

Argumentiert wird das so: Weil der Scheibenwischer vom Wrack im rechten Winkel abstand, wäre das ein Hinweis auf die Symbolik der Freimaurer. Auch ein Schuh im Feld habe darauf hingewiesen - weil ein Schuh in einem alten Ritual eine Rolle gespielt hatte. Der beste Beweis ist, dass Haider in einem VW Phaeton umgekommen sei. Phaeton war in der Mythologie eine Sonnengestalt. VW müsste also von Freimaurern unterwandert sein, die eine eigene Marke entwickelt hätten, nur um Haider in ihr zu Tode kommen zu lassen. Hier nehmen die Verschwörungstheorien kabarettistisches Format an.