Debatte über Rückkehr zur Wahlpflicht
Draußen strahlende Sonne, drinnen gähnende Leere: In vielen Wahllokalen Frankreichs haben sich bis zum frühen Nachmittag noch viel weniger Wahlberechtigte eingefunden als bei der ersten Runde der Wahl zur Nationalversammlung. Laut offiziellen Statistiken des Innenministeriums gaben bis 17.00 Uhr nur 35,3 Prozent ihre Stimme ab.
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Vorige Woche waren es um dieselbe Uhrzeit rund 40 Prozent, bei der Stichwahl vor fünf Jahren lag der Vergleichswert bei rund 46 Prozent. Meinungsforschungsinstituten zufolge wird die Wahlbeteiligung nach dem Schließen der Wahllokale rund 42 bis 43 Prozent betragen. Vergangene Woche waren es unter 50 Prozent.
Macron bei Stimmabgabe siegessicher
Präsident Emmanuel Macron gab seine Stimme schon sehr früh im nordfranzösischen Badeort Le Touquet ab. Dass er sich dabei siegessicher präsentierte, kommt nicht von ungefähr: Seiner Partei La Republique en Marche wird eine überwältigende Mehrheit prognostiziert. Genau das scheint aber mit ein Grund für die niedrige Wahlbeteiligung zu sein.

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Macron bei der Stimmabgabe in Le Touquet an der nordfranzösischen Küste
Viele Anhänger Macrons könnten sich auf der sicheren Seite fühlen, hieß es aus dem Team von La Republique en Marche (REM) gegenüber ORF.at - schließlich legte die Partei in den Umfragen der letzten Tage noch einmal zu. REM könnte zusammen mit der verbündeten Zentrumspartei MoDem zwischen 440 und 470 der 577 Abgeordnetenmandate gewinnen.
Opposition kämpft um wenige Plätze
Umgekehrt könnte eine große Zahl potenzieller Wähler der oppositionellen Kandidaten das Handtuch werfen, weil sie sich ohnehin schon als Verlierer sehen. In den Prognosen liegt das konservative Lager nach der zweiten Wahlrunde bei 60 bis 90 Sitzen, die Sozialisten mit verbündeten linken Parteien bei 20 bis 35 Sitzen. Linkspartei und Kommunisten kämen auf fünf bis 25 Sitze, der rechtspopulistische Front National (FN) auf bis zu sechs Sitze.

Grafik: ORF.at; Quelle: Odoxa/France Info
Marie Le Pen hofft auf Sitz in Parlament
Auf einen davon hofft die Chefin der Partei, Marine Le Pen. Sie hat erstmals die Chance, in die Nationalversammlung zu kommen, lag sie doch in der nordfranzösischen FN-Hochburg Henin-Beaumont im ersten Wahlgang mit 46 Prozent fast 30 Punkte vor ihrer Stichwahlgegnerin. Der symbolische Erfolg wäre wichtig für Le Pen - zumal ihre Partei insgesamt nur wenige Sitze bekommen dürfte und es im FN nach der verlorenen Präsidentenwahl bereits knirscht.
In französischen Medien wurde schon am Sonntag die mögliche Einführung einer Wahlpflicht wie in Belgien und Luxemburg in den Raum gestellt. „Braucht es eine Wiedereinführung der Wahlpflicht?“, fragte etwa die Zeitung „Le Parisien“ auf der Titelseite der Sonntag-Ausgabe, „Le Journal du Dimanche“ beantwortete die Frage: „Nicht zur Wahl gehen zu müssen ist das Recht, aber wählen zu gehen ist eine Pflicht.“

ORF.at/Sophia Felbermair
Die prognostizierte Wahlbeteiligung beschäftigte am Sonntag französische Medien
Niedrige Wahlbeteiligung für alle schlecht
Auch wenn die Beteiligung bei den Parlamentswahlen traditionell in Frankreich weit niedriger liegt als bei jenen um das Präsidentschaftsamt, sind 48,7 Prozent trotzdem historisch niedrig - und werden im zweiten Wahldurchgang noch einmal unterboten. Das sei, und da sind sich Vertreter aller Parteien Frankreichs einig, katastrophal. Selbst für Macron, der seine erwartete Machtfülle zu einem Teil der Enthaltung von frustrierten Wählern von Sozialisten, Konservativen und dem rechtsextremen Front National verdanken wird.
Schon jetzt wird von allen Seiten gewarnt. Selbst Macron selbst habe, berichtet das Magazin „Le Canard Enchaine“, nach dem ersten Durchgang gegenüber seinem Team gesagt, über 400 REM-Abgeordnete seien „fast zu viele“. Er soll das jedoch darauf bezogen haben, dass die große Zahl der von anderen Fraktionen zur REM gewechselten Kandidaten und die vielen Politneulinge möglicherweise schwer unter Kontrolle zu halten seien.
Kein Abbild der politischen Kräfteverhältnisse
Dass die Hälfte der Wähler nicht an die Urnen gegangen sei, bedeute, dass es für die Reformagenda von Macron keine Mehrheit gebe, sagte Linkspolitiker Jean-Luc Melenchon. Ähnlich formulierten es die rechtsextreme Front-National-Kandidatin Le Pen sowie die konservative Kandidatin Nathalie Kosciusko-Morizet - alle drei müssen in der Stichwahl noch um ihren Platz kämpfen.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA
Rechnet man aber rein die Stimmanteile ihrer Parteien im ersten Wahlgang zusammen, wird deutlich, dass die erwartete überwältigende REM-Mehrheit im Parlament kein Abbild der im Land bestehenden politischen Kräfteverhältnisse sein wird. Macron bleibt den Prognosen zufolge eine Opposition im Parlament erspart, die ihn blockieren könnte. Jener auf der Straße wird er sich schon demnächst stellen müssen, wenn es um die Umsetzung seiner geplanten Arbeitsmarktreform geht - erste Protestaktionen sind schon angekündigt.
Die ewige Debatte über das Mehrheitswahlrecht
Grund für die Sitzverteilung im Parlament ist das in Frankreich geltende Mehrheitswahlrecht in zwei Runden, das letztlich pro Wahlkreis nur einen Kandidaten für das Parlament hervorbringt. Allgemein erleichtert dieses System stabile Regierungsmehrheiten ohne mühsame Koalitionsbildung, wird gerne argumentiert.
Gegner halten das Mehrheitswahlrecht hingegen für nicht repräsentativ und damit undemokratisch. Nicht nur, weil kleine Parteien geringere Chancen haben, sondern auch, weil die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten in jedem Wahlkreis unter den Tisch fallen - auch wenn sie in Summe eine deutlich größere Opposition abbilden.
In der Vergangenheit haben sowohl der konservative Staatschef Nicolas Sarkozy als auch sein sozialistischer Nachfolger Francois Hollande versprochen, zumindest einen Teil der Abgeordneten nach dem Verhältniswahlrecht wählen zu lassen. Geschehen ist das aber nicht - mutmaßlich nicht zuletzt deshalb, weil die beiden großen Traditionsparteien bisher vom reinen Mehrheitswahlrecht profitierten und der FN damit im Parlament klein gehalten wurde.
Bleibt abzuwarten, ob Macron sein Versprechen, zumindest eine „Dosis“ Verhältniswahlrecht einzuführen, hält - auch nachdem es ihm dermaßen in die Hände gespielt hat.
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Sophia Felbermair, ORF.at aus Paris/Agenturen