Kopflos und viel zu dürr
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts steht immer noch eine mehr oder weniger menschenähnliche Figur im Schaufenster und präsentiert reglos die neuste Kleiderkollektion. Um die Aufmerksamkeit vom Gewand ja nicht auf sich zu lenken, müssen viele Kleinigkeiten beachtet werden - oder die Figuren sind vollkommen abstrahiert und gar kopflos.
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Seit ihrer Entstehung hat die Schaufensterfigur einiges „durchmachen“ müssen. Wie aus Gips gefertigte Leichen stehen sie einfach da, die vorbeigehenden Kunden sollen nur ihre bleichen Silhouetten wahrnehmen und sich stattdessen auf das Produkt konzentrieren. Bis heute ist der Schaufensterpuppe die treibende Verführungskraft in der Geschäftsauslage, die den Kunden zum Kauf der Ware anregen soll.
Figur, keine Puppe
Wobei von „Puppe“ ja eigentlich gar nicht gesprochen werden sollte, denn Spielzeuge sind diese teilweise aufwendig und in Handarbeit hergestellten Objekte keinesfalls. Unter Fachleuten werden die Mannequins ausnahmslos als „Figuren“ bezeichnet.
Erstaunlicherweise wurde diesen statischen Hauptakteuren des Visual Marketings in den vergangenen Jahrzehnten trotz der stetig voranschreitenden Digitalisierung ihre Stellung als vorherrschende Präsentationsform von Kleidung in der Auslage bisher nicht streitig gemacht. Ähnlich wie die Praktiken in der Mode größtenteils traditionell geblieben sind, ist auch das Schaufenster in alten Formen verhaftet.
Nicht zu ersetzen?
„Da, wo von Mensch zu Mensch Handel betrieben wird, wird auch eine Emotionalisierung durch echte Figuren, echte Personen und dargestellte Inszenierung ihren Platz haben. Insbesondere im mittleren bis hochwertigen Bereich“, versuchte Andreas Gesswein, Geschäftsführer des deutschen Schaufensterfigurenherstellers GenesisDisplay, im Gespräch mit ORF.at zu begründen, warum Mannequins immer noch die Vorrangstellung haben – und auch behalten werden.
Die Hologrammtechnologie, gemeint sind hier konkret virtuelle Figuren, gäbe es zwar – diese seien jedoch nur „Add-ons“ und werden auch in Zukunft die plastische Figur nicht ersetzen, davon ist Gesswein überzeugt. Auch Regungen sind kein Muss. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren gab es Versuche, die Figur teilweise bis vollständig beweglich zu machen. Aber ohne besondere Fachkenntnisse waren diese sehr schweren Modelle schwer anzuziehen und zu positionieren, erklärte Gesswein das Dilemma mit der Motorik.
Statisch und zeitlos
Laufende oder gehende Figuren im Schaufenster sind eine Seltenheit. Allerdings setzten einige Sportmarken wie Adidas, Replay oder Plein Sports durchaus Mannequins ein, die aussahen, als würden sie durchs All schweben. Gesswein ist jedoch überzeugt, dass heutzutage „Geschwindigkeit und das Fachpersonal beim Einsatz der Figuren eine entscheidende Rolle“ hätten. So scheint die Praxis vor Design und Innovation zu stehen.
Ein weiterer Grund, warum die „Puppen“ im Wesentlichen gleich geblieben sind, liege schlicht und einfach auch daran, dass sich auch der menschliche Körper nicht radikal gewandelt hat, so Gesswein weiter. Höchstens an den Hüftpolstern. Denn die aktuellen Größentabellen haben sich hinsichtlich Körpergröße und Umfang deutlich in die Breite gewandelt.
Figuren als Spiegel unechter Körperideale
Zwar habe sich die Häufigkeit von übergewichtigen Menschen weltweit zwischen 1980 und 2015 in mehr als 70 Ländern verdoppelt, wie britische Forscher der Global Burden of Disease 2015 Obesity Collaborators berichteten; die Figurenhersteller scheinen jedoch weit davon entfernt zu sein, ein akkurates Bild der Wirklichkeit nachzeichnen zu wollen. Denn 100 Prozent der weiblichen Schaufensterfiguren repräsentierten ein medizinisch gesehen untergewichtiges Körperideal, lautet das Ergebnis einer Untersuchung der University of Liverpool.
Bei den männlichen Mannequins seien es lediglich acht Prozent. Der Autor, Eric Robinson, betont, dass solche Figuren durchaus einen starken Einfluss auf den Betrachter haben können: „Ultradünne Ideale bestärken die Entwicklung von Problemen hinsichtlich der Körperideale junger Menschen“, so Robinson gegenüber der Website Science Daily.
Ausgehungerte Modelle sind Alltag
Mit den Vorwürfen, Schaufensterfiguren seien gegenwärtig immer noch zu dünn, sehen sich vor allem große Modemarken, die häufig eine junge Zielgruppe ansprechen, immer wieder von besorgten Eltern über die Sozialen Medien konfrontiert. Anfang des Jahres beklagte eine Mutter im Namen ihrer 15-jährigen Tochter die Auslage von Topshop auf Facebook.
In die Medien schaffte es die italienische Unterwäscheedelmarke La Perla und sorgte mit einem ausgehungerten Modell, bei dem die Rippen deutlich zu erkennen waren, für Aufsehen. Das Modell verschwand daraufhin aus der Auslage. Die spanische Modekette Zara hingegen verwendet aktuell immer noch Figuren, die das Körperbild verzerren und nicht annährend menschliche Proportionen darstellen.
Abgesehen davon, dass Schaufensterfiguren generell zu dünn sind, musste sich die Figur in den letzten Jahrzehnten doch auch noch anderen Trends unterwerfen. Gaby Szymkowiak, Marketing- und Vertriebsleiterin bei Moch Figuren, beschreibt in ihrem Text „Der Trend der Schaufensterfiguren“ beispielsweise die 1990er Jahre als die Zeit der kopflosen Figuren in „Zinnsoldatenhaltung“.
Der Kopf, eine Seltenheit
Auch heute würden Unternehmen noch kopflose Figuren einsetzen, jedoch hauptsächlich solche, die Angst davor haben, dass ein Gesicht zu sehr von der Ware ablenkt. Wer mit offenen Augen durch die Straßen schlendert und die Auslagen betrachtet, wird allerdings feststellen, dass kopflose Modelle keine Seltenheit sind.
Tatsächlich kann ein schlecht ausgefertigtes Antlitz durchaus seine Wirkung verfehlen. Ein Mannequin sei die Visitenkarte des Geschäfts und müsse die Form, Mode und Position passend zum Zeitgeist der Mode darstellen. Aktuell sei – zum Missfallen Gessweins – immer noch Abstraktion im Trend: „Sie bekommen zurzeit nur etwas mehr Gesicht und werden hier und da mit Aufklebern und Perücken aufgepeppt.“
Diese Zurückhaltung sei der derzeitigen Krisenlage im textilen Einzelhandel zu geschuldet, aber auch dem fehlenden Selbstbewusstsein vieler Designer zuzuschreiben. Ein Hauptgrund seien jedoch die fehlenden Fachkräfte, die das Stylen von Perücken und Make-ups nicht mehr beherrschen. Außerdem sei eine abstrakte Figur vielseitiger und einfacher einzusetzen und kann auch von nicht fachkundigem Personal rasch ein- und ausgezogen werden.
Furchteinflößend realistisch
Im Kontrast dazu gehörten Figuren, die realitätsnah sind, keinesfalls ins Schaufenster, sondern ausschließlich in den Erotikbereich, so der Experte. Sie werden aus Silikon hergestellt und seien dermaßen fotorealistisch, dass sie manchmal bereits furchterregend echt aussehen, betonte Gesswein. Eine solche Figur würde den Käufer eher verschrecken, anstatt verkaufsfördernd zu sein.
„Psychologisch gesehen solle eine Figur nie lachen und dem Betrachter nicht direkt in die Augen schauen. Realitätsnahe Figuren sind eher etwas für Museen, für Kunst oder für spezielle Events gedacht“, sagte der Experte.
Keine überbordende Erotik
Obwohl beim Geschäftebummeln durchaus auch mit Muskeln und Brustwarzen versehene Silhouetten anzutreffen sind, gilt laut dem Experten eine klare Regel: „Sex-Appeal ist erlaubt, Erotik ist verboten.“ Die Entscheidungsträger waren dabei klar die Kunden, fügte er hinzu. Sixpacks sind nur dort erwünscht, wo sie auch tatsächlich verdienlich seien, beispielsweise im Sportbereich. Brustwarzen dürften allerdings höchstens angedeutet werden, so der Experte. Selbst dabei sollten sie durch die Kleidung nicht sichtbar sein.
Oder doch „Sex sells“?
Allerdings gibt es Gegenbeispiele. So spiegelten Schaufensterpuppe da und dort regionale Schönheitsideale wider. Vergrößerter Busen, ausgepolsterte Hinterteile und eine Wespentaille waren vor einigen Jahren die dominierende Ästhetik bei venezolanischen Frauen – nicht zuletzt beeinflusst von Schönheitswettbewerben.
Eliezer Alvarez, ein Schaufensterfigurenhersteller aus Valencia, dessen Geschäfte mäßig liefen, beschloss 2013, sich mit seinen Mannequins an diese Maße anzupassen, wie die „New York Times“ berichtete. Mit der Größe des Busens stiegen auch die Verkaufszahlen seiner Modelle.
Links:
Yasmin Szaraniec, für ORF.at