„Schlampig oder böswillig“
Am 10. April 2010 sind Präsident Lech Kaczynski und 95 weitere Insassen - darunter Regierungsmitglieder, Militärs und der Notenbankchef - ums Leben gekommen, als der polnische Regierungsflieger über dem russischen Smolensk abstürzte. Verschwörungstheorien reißen seitdem nicht ab, meist kommen sie aus den Reihen der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS).
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Im November 2016 begann auf Betreiben von Kaczynskis Zwillingsbruder Jaroslaw, dem mächtigen Chef der PiS, die Exhumierung der Opfer. „Wir wollen die Wahrheit über Smolensk", trommelt Kaczynski schon seit Jahren. Auch im Wahlkampfjahr 2015 nützte der damalige Oppositionschef das Thema, um Regierung und Behörden zu diskreditieren: „Sie haben die polnische Gesellschaft fortwährend angelogen.“
Fremde Leichen vermengt
Bisher wurden 24 Särge geöffnet - das Ergebnis ist laut der Warschauer Generalstaatsanwaltschaft erschütternd, wie CNN und „Guardian“ berichten. In Lech Kaczynskis Sarg wurden Teile von zwei anderen Leichnamen entdeckt. Neun der 96 Toten wurden am Unglücksort komplett vertauscht.
Weitere grausame Details: Im Sarg des Offiziers Bronislaw Kwiatkowski befanden sich 14 Körperteile von sieben verschiedenen Menschen, in jenem von Offizier Wlodzimierz Potasinski Leichenteile von vier der Verstorbenen. Im Sarg von Erzbischof Miron Chodakowski lag nur dessen Oberkörper, dazu der Unterkörper von Militärbischof Tadeusz Ploski.
Spannungen mit Russland verschärft
Magdalena Merta, die Witwe eines bei dem Unglück ums Leben gekommenen Ministerialbeamten, sagte gegenüber der staatlichen polnischen Nachrichtenagentur PAP, der Umgang Russlands mit den Leichen sei „im besten Fall schlampig, im schlechtesten Fall böswillig“ gewesen. Die Ergebnisse der Exhumierungen könnten die angesichts der Ukraine-Krise ohnehin sehr angespannte Beziehung zwischen Polen und Russland nun zusätzlich belasten.
Erst im April hatte die polnische Staatsanwaltschaft Vorwürfe in Richtung Russland verschärft: Die Fluglotsen in Smolensk könnten den Absturz absichtlich herbeigeführt haben. Dort war die Maschine mit der Regierungsdelegation auf dem Weg zu einer Gedenkveranstaltung abgestürzt. Auch die vorherigen Ermittler waren einer möglichen Mitschuld der Lotsen nachgegangen, kamen aber zu einem anderen Schluss als die von der PiS berufenen Beamten.
Nachdem die PiS im Oktober 2015 an die Macht zurückkehrte, wurden neue Untersuchungen eingeleitet. Smolensk kann in ihren Augen kein Unfall sein. Die Ursache der Katastrophe müsse endlich erhellt werden, betonte Regierungschefin Beata Szydlo gleich in den ersten Wochen im Amt.

AP/Czarek Sokolowski
PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski ließ die Untersuchungen um den Smolensk-Absturz neu aufrollen
Tusk unter Beschuss
Auch rechtliche Konsequenzen gab es: Mitarbeiter der Staatskanzlei des damaligen Regierungschefs Donald Tusk sollen sich vor Gericht verantworten. In dem Zivilverfahren auf Antrag mehrerer Opferfamilien werden ihnen Versäumnisse bei der Vorbereitung des Flugs vorgeworfen. Verteidigungsminister Antoni Macierewicz bezichtigte den heutigen EU-Ratspräsidenten in einem Brief an die Staatsanwaltschaft sogar des „diplomatischen Verrats“. Darauf drohen in Polen bis zu zehn Jahre Haft.
Regierungskritiker unterstellen der PiS, die Katastrophe nur zur Diskreditierung ihrer Vorgänger zu nutzen. Die Opposition warf der Staatsanwaltschaft nun vor, selektiv und zum Vorteil der Regierenden zu informieren. Die Behörden hätten weder Angaben dazu gemacht, wer für die Fehler verantwortlich sei, noch Erkenntnisse zur Anschlagstheorie geliefert. Die PiS wolle den Smolensk-Mythos aus Eigeninteresse möglichst lange aufrechterhalten.
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