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Eine Antithese setzt sich durch

Ausgerechnet ein Künstler und ein Song, die sich gegen alles richten, was den Bewerb scheinbar ausmacht, haben am Samstag den Song Contest gewonnen. Salvador Sobral ersang sich den Sieg mit „Amar pelos dois“ - und das ganz ohne Tänzer, bunte Visuals und Pyrotechnik.

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Von einer Welt der „völlig austauschbaren Musik - Fast-Food-Musik ohne jeden Inhalt“ sprach Sobral in der Siegerpressekonferenz. Obwohl er wohl auch seine Konkurrenz damit meinte, mochte ihm fast niemand böse sein. Bescheiden und gleichzeitig smart und eloquent präsentierte er sich der Presse. Auch dass ihm die Veranstalter zu Beginn der Woche wegen eines „S.O.S. Refugees“-Sweaters abgemahnt hatten, kommentierte er unaufgeregt. Das sei kein politisches Statement gewesen, sondern eine Frage der Humanität.

Ernster Song, launige Gesten

Sobral sprach sich auch gegen das Primat Radiotauglichkeit der Song-Contest-Beiträge aus. Das interessiere ihn einfach nicht. Der Portugiese und seine Schwester nahmen den Bewerb ernst, aber nicht zu ernst. Vielleicht waren es gerade die im starken Kontrast zum Song stehenden launigen und selbstironischen Gesten, die Sobral binnen weniger Tage in Kiew vor dem großen Finale zu so etwas wie den programmierten Sieger der Herzen gemacht haben.

Salvador Sobral mit seiner Schwester

Reuters/Gleb Garanich

Salvador Sobral und seine Schwester Luisa gingen als Sieger - nicht nur der Herzen

Erst mit dieser Eigendynamik ist der Sieg - der übrigens mit portugiesischer Fado-Musik nicht allzu viel gemeinsam hat - erklärbar. Das totale Kontrastprogramm ging auf - mit einem Song, der es in den meisten Ländern nicht einmal in die Vorausscheidung geschafft hätte und sich dann gegen die anderen großen Strategien im Teilnehmerfeld durchsetzen konnte.

Nicht alle Pläne gehen auf

Immerhin auf Platz zwei und fünf landeten mit Bulgarien und Schweden zwei Vertreter des Reißbrettpops, der perfektionistisch auf den Bewerb hingetrimmt ist, heuer aber noch unterkühlter wirkte als sonst. Zypern ging mit ähnlicher Strategie eher unter. Auch der im Vorfeld als Topfavorit gehandelte Italiener Francesco Gabbani konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Er glänzte allerdings mit Süffisanz und Witz, sein „Occidentali’s Karma“ wird wohl zu Recht ein Hit in Europa. Für den Mut, musikalisch einigermaßen am Puls der Zeit zu sein, wurden auch Belgien mit Platz vier und Norwegen mit Rang zehn belohnt.

Und dass eher spaßige Beiträge durchaus auch einen Sog entwickeln können, bewiesen Rumänien und Moldawien. Die jodelnden Rumänen wirkten selbstbewusst sympathisch - das hätte auch ganz schwer peinlich werden können. Das moldawische SunStroke Project ist mit Platz drei die Überraschung schlechthin, vielleicht auch mit Hilfe des alten „Epic Sax Guy“-Memes vom Auftritt der Band beim Song Contest 2010, das nun wieder die Runde im Web gemacht hat - mehr dazu in fm4.ORF.at.

Ilinca und Alex Florea

APA/AP/Efrem Lukatsky

Rumänien: Echter Spaß auf der Bühne erreicht auch das Publikum

Das Ende der Heulbojen

Wer auffallen will, muss etwas bieten, das sich vom Rest abhebt. Viele Länder haben offenbar das Wort Alleinstellungsmerkmal nicht verstanden. Weil: Nein, das ist nicht, wenn man eine Frau im extravaganten Kleid alleine auf die Bühne stellt. Von den etlichen Teilnehmerinnen in den beiden Semifinale schafften es gerade Dänemark, Polen und Griechenland mit Ach und Weh weiter - und wurden dann dort ignoriert.

Am Samstag gelang es nur der Britin Lucie Jones mit einer eindringlichen Ballade sich nicht ganz schlecht zu platzieren. Zum dritten Mal in Folge wurde Deutschland abgestraft: Levina wurde Vorletzte. Sie wurde wie schon ihre Vorgängerinnen vom Publikum ausgesucht - vielleicht der letzte Beweis, dass ein forcierter Castingshow-Wahnsinn dem musikalischen Massengeschmack nicht guttut.

Bittere Lektionen

Den 16. Platz für Nathan Trent kann man mit lachendem und weinendem Auge sehen. Mit dem Finaleinzug wurde eine Demütigung verhindert, die vielen Jurypunkte und Trents Auftreten bewiesen, dass die Wahl des Tirolers die richtige Entscheidung für Kiew war. Allerdings war Trents Nummer „Running on Air“ für ein einmaliges Hören - und darauf kommt es beim Publikum an - doch eine Spur zu lieblich und belanglos. Keinen einzigen Publikumspunkt zu bekommen ist eine bittere Lektion. Sie lautet: Wer es allen recht machen will, bleibt über.

Wieder im Kommen sind dementsprechend offenbar nicht englische Beiträge. Portugiesisch, Italienisch, Französisch, Weißrussisch, Ungarisch - alle Songs, die heuer in der Landessprache vorgetragen wurden, schnitten gut ab.

Die LED-Projektionen sind abgenützt

Der Sieg Portugals kann auch ein Fingerzeig auf die künftige Inszenierung der Beiträge sein. Nach einigen Jahren im Einsatz nutzen sich die riesigen Visuals auf den LED-Walls zunehmend ab. Die Interaktion der Künstler mit den Projektionen war in den vergangenen beiden Jahren das große Thema. Mittlerweile scheint das alles abgefrühstückt. Bei etlichen Teilnehmern wurde auf der Bühne alles abgefackelt, was nicht feuerfest war, richtig zündende Ideen fehlten aber.

Eindrücke vom Song Contest

APA/AFP/Sergei Supinsky

Suchbild mit französischer Sängerin

Kompliziertes Voting erfüllt seinen Zweck

Das in den vergangenen Jahren zunehmend komplizierter gewordene Votingprozedere scheint den von der EBU intendierten Sinn zu erfüllen. Hauptsächlich, weil es tatsächlich fast bis zum letzten Moment spannend bleibt, weil sich rechnerisch sehr lange mehrere Teilnehmerländer als Sieger ausgehen könnten. Und weil auch im zweiten Jahr kaum ein Zuschauer auf Anhieb weiß, wie die Punkte gerechnet werden.

Ebenfalls ein Anliegen der EBU war es, durch die Aufteilung auf ein Jury- und ein Televoting, die seit Jahrzehnten etablierten Votingblocks aufzulösen. Das scheint zu greifen, allerdings langsam, wie die Punkteschieberei zwischen Schweden, Norwegen, Finnland, Island, Dänemark und den Niederlanden zeigt – sowohl Publikum als auch Jurys dieser Länder bewerteten die anderen nordeuropäischen Beiträge überdurchschnittlich gut.

Nachbarschaftshilfe lebt weiter

Einer gewissen bilateralen Publikumstreue konnte die EBU bisher nichts anhaben. Dass heuer wieder zwölf Punkte von Zypern an Griechenland und umgekehrt gingen, sollte kaum jemand überrascht haben, genauso wenig wie verlässlich hohe Wertung von jeweils zehn Punkten, die sich Belgien und die Niederlande gegenseitig zugeschoben haben.

Eindrücke vom Song Contest

APA/AFP/Sergei Supinsky

Ohne die Topwertung aus Zypern wäre Griechenland um einige Plätze nach hinten gerutscht

Die Freundschaft zwischen Portugal und Spanien wurde mit Manel Navarros „Do It For Your Lover“ zwar auf eine harte Probe gestellt – die Zuseher in Portugal zeigten sich trotzdem gnädig und gaben dem katalanischen Sonnyboy trotz allem fünf Punkte – die einzigen fünf, die der im Finale Letztplatzierte überhaupt erhalten sollte. Umgekehrt ging die Höchstwertung – sowohl die der Jury als auch die des Publikums – aus Spanien an Portugal. Polen konnte sich wie fast immer auf die große Auswanderercommunity verlassen und sich vor allem bei Großbritannien und Irland für viele Punkte bedanken.

Bröckelnde Blöcke im Osten

Nicht ganz so gut auf Schiene ist der Block ex-jugoslawischer Länder, von denen es heuer einzig Jacques Houdec aus Kroatien ins Finale geschafft hat. Er konnte zwar beim Publikum aus Montenegro, Slowenien, Mazedonien und Serbien punkten, die Jurys waren aber deutlich zurückhaltender. Mit Platz 13 landete Kroatien damit genau im Mittelfeld, für viele Beobachter aus Resteuropa und so gut wie alle nationalen Jurys deutlich überbewertet.

Der dritte große Block, die baltischen Staaten, war im Finale heuer ohne Kandidaten, nachdem Estland, Lettland und Litauen jeweils schon im Semifinale aufgeben mussten. Nicht mehr existent ist – spätestens seit dem Politstreit zwischen Russland und der Ukraine, der zum Ausschluss Russlands im heurigen Bewerb geführt hat - der „Ostblock“, zu dem in früheren Zeiten außer den beiden Ländern auch noch Polen assoziiert wurde. Lediglich zwei Punkte wurden in diesem Cluster heuer bewegt – vom ukrainischen Publikum an das polnische.

O.Torvald (Ukraine) beim ESC 2017

APA/AP/Efrem Lukatsky

Die Ukraine war als Gastgeberland fix im Finale, hätte die Qualifikation aber wohl heuer nicht überstanden

Heile Fernsehwelt mit schwedischer Hilfe

Der Politstreit mit Russland wird allerdings für beide Länder noch ein Nachspiel haben, kündigte die EBU schon vor dem Bewerb an, als mögliche Sanktion steht ein Ausschluss in den kommenden Jahren an. Heuer erwies sich Kiew jedoch noch als bemühter Gastgeber. Zumindest in der Gute-Laune-Welt des Song Contests war nicht zu sehen, dass das Land mitten in einem Bürgerkrieg ist.

Hinter den Kulissen war aber klar, dass der Bewerb eigentlich eine schwedische Veranstaltung ist. Nach dem Chaos in der Vorbereitung hatte die EBU das Ruder übernommen und die schwedischen Profis retteten, was noch zu retten war. Heraus kam eine solide Show, die an den Rändern ausfranste. Das musikalische Rahmenprogramm war mau, die drei männlichen Moderatoren zu sehr bemüht lustig. Die Eurovision-Website war nach dem Perfektionismus der vergangenen Jahre heuer eher desaströs.

Für mediale und politische Aufregung sorgte Israel, als bei der Mitteilung der Jurypunktevergabe live verkündet wurde, das Land könnte in Zukunft nicht mehr am Song Contest teilnehmen. Die Übertragung war überhaupt die letzte Sendung der staatlichen IBA (Israel Broadcasting Authority). Die Einstellung des Senders ist in Israel ein riesiges Politikum: Der neu gegründete Sender Kann übernimmt die Nachfolge - und soll um einiges regierungsfreundlicher agieren.

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