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Webpionier zu Gast in Wien

Hakon Wium Lie hat vor einem knappen Vierteljahrhundert das Internet grundlegend verändert, bis heute ist sein Beitrag überall im Netz sichtbar. Der Webpionier sagt dem Medium bei der Entwicklerkonferenz WeAreDevelopers in Wien eine lange Zukunft voraus - und sieht es noch lange nicht am Ende seiner Entwicklung angekommen.

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Bis 1995 war das World Wide Web in erster Linie grau: Dokumente im Netz mussten ohne Formatierung auskommen, schwarze Schrift und grauer Hintergrund waren der Standard im Browser. Dem Wunsch von Designern nach mehr Auswahl bei Farben und Schriften sowie Freiheit bei der Gestaltung kam der Norweger Lie nach.

Lie, geboren 1965, studierte Anfang der 90er am MIT Media Lab im US-Bundesstaat Massachusetts, das sich mit Projekten an der Schnittstelle von Wissenschaft, Technologie, Kunst und Design auseinandersetzt. Mit diesem Wissen ging er 1994 nach Genf, wo er am CERN unter anderem mit dem Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, an der Entwicklung des Mediums arbeitete. Mit seinen Cascading Style Sheets (CSS) hat er eine eigene Sprache als Standard etabliert, die dem Netz Farbe verleiht.

Hakon Wium Lie

WeAreDevelopers/Jerzy Bin

Hakon Wium Lie hielt auf der Entwicklerkonferenz WeAreDevelopers in Wien einen Votrag

Jeder Einzelne kann Web mitbestimmen

Den Status als alleiniger Erfinder lehnt er im Gespräch mit ORF.at aber ab: „Ohne Hilfe der Community hätte CSS nicht entstehen können“, sagt er und verweist auf den Entstehungsprozess eines Netzstandards. In den 90ern führte der Weg über einen Mailverteiler, auf dem Anwender ihre Vorschläge zur Diskussion stellen konnten. „Das ist das Schöne am Netz, du bekommst sofort Rückmeldung.“

Auch heute würde der Prozess noch immer ähnlich ablaufen, wenngleich es aufgrund des enormen Wachstums des Web „schwieriger geworden“ ist, „gehört zu werden“. Während viele Vorschläge mittlerweile von Firmen und Arbeitsgruppen eingebracht werden, werde jedoch niemand daran gehindert, als Einzelperson an der ständigen Weiterentwicklung des als bewusst offen konzipierten Mediums mitzuwirken.

Web entwickelt sich konstant weiter

Mittlerweile ist Lies Beitrag zum Web nicht mehr aus dem Browser wegzudenken und dient der Gestaltung praktisch jeder Website. Das enorme Wachstum des Netzes habe damals niemand vorhergesehen, doch einige Technologien wurden schon damals für heutige Trends vorbereitet. Das Web am Smartphone, Laptop und als Ausdruck auf Papier: Obwohl einige Gadgets Mitte der 90er noch nach Science-Fiction klangen, waren die dem Web zugrundeliegenden Technologien als zukunftsorientiert konzipiert.

Und Lie sieht die Entwicklung noch lange nicht als abgeschlossen an: Für ihn sei es etwa ein „Verlust“, dass das Web seinen Weg auf immer kleinere Bildschirme finde. Eine Landkarte am Smartphone zu verwenden sei kompliziert, stattdessen werde es in Zukunft „faltbare Bildschirme“ geben, die die Größe einer Tageszeitung erreichen sollen. Es werde „jede Menge neue Hardware“ geben - entscheidend sei, dass die Inhalte und die technischen Spezifikationen beibehalten werden.

Langlebigkeit und Stolpersteine

So sieht der Mitbegründer der norwegischen Piratenpartei auch das Web als sehr langlebiges Medium an. Er „wette“, dass „die Maschinen, die wir in 500 Jahren bauen“ noch immer in der Lage sein werden, „die Inhalte von heute zu lesen“ und zieht den Vergleich mit Gutenbergs Buchdruck: Es sei heute genauso noch immer möglich, Bücher zu lesen, die vor 500 Jahren geschrieben wurden.

Das heiße aber umgekehrt nicht, dass es keine Herausforderungen gebe, die das Netz in seiner derzeitigen Form bedrohen. Vor allem die Einflussnahme von Firmen lehnt Lie damals wie heute strikt ab: Dass niemandem das Web gehöre, sei eines seiner zentralen Stärken - „Firmen kommen und gehen“, doch der Unterbau ist über Jahrzehnte hinweg intakt geblieben. Das Web brauche zwar finanziell stark aufgestellte Unterstützer - zu stark dürfen sie jedoch nicht sein, um diese Unabhängigkeit zu wahren. Das sei ein schwieriger Balanceakt.

„Zu spät, um Regeln zu ändern“

Auch der Datenschutz ist Lie, wie anderen Gründervätern des Netzes, ein zentrales Anliegen. Zu wissen, wo Daten von Anwendern im Netz abgelegt werden und unter welchen Bedingungen das geschieht, sei oft nicht nachvollziehbar. „Um ein Netzbürger zu sein, muss man regelmäßig lügen“, sagt Lie in Anspielung auf oft unverständlich formulierte Nutzungsbedingungen, die ungelesen akzeptiert werden. Er könne sich als Lösungsansatz zum Beispiel einen eigenen Teil des Netzes vorstellen, der über vertragliche Regelungen sicherstellt, dass die Rechte des Anwenders gewahrt werden.

Für so manche tiefgreifende Regeländerung sei es aber einfach zu spät: Welche Ausmaße etwa die Verfolgung von Anwendern quer durch das Netz mit Hilfe von Cookies angenommen hat, sei vor 25 Jahren noch nicht abzuschätzen gewesen. Heute sei es „zu spät, um die Regeln des Internets zu ändern“, das hätte bereits damals geschehen müssen. Auch hier verweist Lie auf einen neuen Bereich im Netz, wo entsprechende Vorgaben auch wirklich durchgesetzt werden könnten.

Auf der Suche nach der Lingua Franca

In seiner Rolle als Chefentwickler des Webbrowsers Opera, der vor allem in Asien populär ist, sieht Lie auch international noch Raum für Entwicklungen. Obwohl es mittlerweile möglich ist, an praktisch jedem Ort der Welt Zugriff zum Internet zu erlangen, wächst die Netzbevölkerung weiter - dabei sei es wichtig, auch Inhalte in der eigenen Sprache zu haben, zum Beispiel eine entsprechende Ausgabe des Onlinelexikons Wikipedia.

Auch, ob sich eine Sprache letztlich im Web durchsetzen werde, sei das - wie bisher - Englisch oder mit dem rasanten Wachstum in Asien auch Chinesisch, ist für Lie noch nicht entschieden. Dass Landessprachen im - und letztlich durch das - Netz erhalten werden, sei hierzu jedenfalls kein Widerspruch, vielmehr sei beides gleichzeitig möglich.

Ein Apfelbaum statt Bits und Bytes

Und obwohl Lie das Netz maßgeblich weiterentwickelt hat und ihm eine lange Zukunft voraussagt, erinnert er auch an die Zerbrechlichkeit des Mediums. Was passiert, wenn das Netz ausfällt? Je mehr die Menschheit vom Netz abhänge, desto eher fürchte er, dass die Gesellschaft bei einem Ausfall komplett zusammenbrechen würde - zumindest kurzfristig.

Er selbst besitzt mittlerweile eine eigene Apfelplantage - von Apfelsaft alleine könne er, meint Lie lachend, zwar nicht autark leben, doch Bits und Bytes aus dem Netz könne er eben auch nicht essen. Dem norwegischen Webpionier sei es jedenfalls wichtig, „nicht zu denken, dass uns das Internet alles gibt, was wir zum Leben brauchen“ - denn: „Das tut es nicht.“

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