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Hunderttausende sollen Häuser verlassen

Es ist ein Bauprojekt der Superlative, das Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin zu Jahresbeginn präsentiert hat: Hunderttausende Bürger - insgesamt ein Zwölftel der gesamten Einwohnerschaft - sollen ihre maroden Häuser verlassen und neuen Wohnraum zugeteilt bekommen. Nun, da mehr über das Vorhaben bekannt wird, wächst der Widerstand. Viele Betroffene fühlen sich von der Regierung überrumpelt.

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Als Ministerpräsident Nikita Chruschtschow sie in den 50er und 60er Jahren aus dem Boden stampfen ließ, sollten die Bauten eine Übergangslösung sein - doch die meisten Chruschtschowkas werden heute noch genutzt. Bezeichnet werden so Plattenbauten, die in Moskau und vielen anderen russischen Städten schnell und billig erbaut wurden, um der damaligen Wohnungsnot beizukommen.

Die Küchen sind oft so klein, dass kein Kühlschrank darin Platz findet, die Deckenhöhe in den Wohnungen beträgt vergleichsweise geringe 2,5 Meter, Aufzüge gibt es nicht. Auf dem Gebiet des heutigen Russland wurden während der Sowjetzeit insgesamt 290 Millionen Quadratmeter Wohnfläche in Form von Chruschtschowkas errichtet – zunächst nur Beton-, später auch Ziegelbauten. Millionen von Russen eröffneten sie erst den Weg zu einer eigenen Wohnung. Heute machen sie etwa zehn Prozent des gesamten Wohnraums aus, sowohl landesweit als auch in Moskau.

Plattenbau in Moskau

picturedesk.com/Tass/Andrei Makhonin

Eine typische fünfgeschoßige Chruschtschowka in Moskau

Moskaus Milliardenprojekt

Ihre Nutzungsdauer sollte 20 Jahre betragen, mittlerweile sind die ältesten seit über 50 Jahren bewohnt. Entsprechend baufällig und altersschwach sind die Chruschtschowkas, vor allem jene aus Beton. In vielen russischen Städten sind Initiativen angelaufen, die Häuser abzureißen und durch neuen Wohnraum zu ersetzen. In ärmeren Regionen fehlt dafür das Budget, in ihnen werden sich die alten Bauten noch lange finden.

Plattenbau in Moskau

picturedesk.com/Tass/Andrei Makhonin

Lange wird die russische Fahne auf dem rostigen Balkon nicht mehr wehen

In Moskau dagegen ist der sukzessive Abriss der Chruschtschowkas schon im Gange. In den vergangenen 17 Jahren waren laut „Moskauer Deutscher Zeitung“ 1.722 davon zum Abriss freigegeben. 2018 soll das Projekt beendet sein – und ein noch weit größeres in die Gänge kommen. Ende Februar gab Bürgermeister Sobjanin, unterstützt von Präsident Wladimir Putin, seinen Plan zur endgültigen Beseitigung der Chruschtschowkas bekannt. Betroffen waren ursprünglich 8.000 Häuser mit einer Wohnfläche von 25 Millionen Quadratmetern und 1,6 Millionen Bewohnern. 3,5 Billionen Rubel (rund 57 Mrd. Euro) waren für den Umbau vorgesehen.

Widerstand wächst

„Das Ziel ist, die Wohnbedingungen für diejenigen zu verbessern, deren Gebäude einzustürzen drohen“, sagte Putin laut AFP bei einer Kabinettssitzung. Moskau verspricht, alle Betroffenen in noch zu errichtende Neubauten im jeweils gleichen Stadtbezirk umzusiedeln und niemandem eine kleinere Wohnfläche zuzumuten. Nur jene Viertel sollen eingestampft werden, in denen zwei Drittel der Bewohner ihre Zustimmung geben. Danach kann eine Pflicht zum Auszug innerhalb von zwei Monaten angeordnet werden.

Abriss eines Plattenbaus

Reuters/Sergei Karpukhin

Viele Chruschtschowkas sind schon geräumt, bald kommt die Abrissbirne

Inzwischen wurde das Projekt auf gut die Hälfte verkleinert – die Liste der Abrissobjekte wurde auf 4.566 Einträge verkürzt. Laut „Spiegel“ finden sich darunter auch architektonisch wertvolle Bauten, die mit Chruschtschowkas nichts zu tun haben. Der Widerstand gegen das Projekt wächst, viele Moskauer weigern sich, ihre angestammten Häuser zu verlassen. Sie fühlen sich desinformiert und überrollt von der Regierung. Für Sonntag haben die Umsiedlungsgegner zu einer großen Protestkundgebung aufgerufen.

Noch mehr Beton

Laut „Moskauer Deutscher Zeitung“ hat das einen guten Grund: Bauunternehmern zufolge sind als Ersatz für die bisher fünfgeschoßigen Häuser 20-stöckige Hochhausviertel geplant – noch mehr Beton und Anonymität statt moderner, menschenfreundlicher Architektur also. Die „ganz anderen Wohnqualität“, die Bürgermeister Sobjanin den Umsiedlern in Aussicht stellte, könnte so einen fahlen Beigeschmack bekommen. Sicherer Profiteur ist dagegen die Baubranche - mit der geplanten Vervierfachung der Wohnfläche lässt sich viel Geld machen.

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