Zweifel an Zweitätertheorie
Jahrelang sind die Ermittler im Dunkeln getappt: Am 25. April 2007 wurde die Polizistin Michele Kiesewetter im deutschen Heilbronn im Polizeiauto erschossen. Ihr Kollege Martin A. überlebte schwer verletzt. Die Tatwaffe wurde 2011 bei den beiden toten Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden. Kiesewetter wurde ebenfalls Opfer der NSU-Mordserie - so die deutsche Bundesanwaltschaft.
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Kiesewetter, Beamtin der Böblinger Bereitschaftspolizei, hatte sich nach einem Besuch in der Heimat Thüringen für den 25. April 2007 eigentlich freinehmen wollen. Wenige Tage zuvor entschied sie jedoch, sich für den Dienst in Heilbronn zu melden. Während der Mittagspause im Streifenwagen auf der dortigen Theresienwiese wurde sie aus nächster Nähe erschossen. Ihr Kollege erhielt ebenfalls einen Kopfschuss, überlebte die Attacke aber. An die Tat kann er sich nicht erinnern. Die Täter flüchteten mit den Dienstwaffen der beiden Polizisten.

APA/AFP/dpa/Bernd Weissbrod
Spurensicherung am Tatort
Jagd auf ein DNA-Phantom
Eine am Dienstwagen gefundene DNA-Spur beschäftigte die Ermittler. An mindestens 40 verschiedenen Tatorten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Österreich waren die DNA-Spuren des „Phantoms von Heilbronn“ gefunden worden, die ersten 1993. Die begangenen Taten waren höchst unterschiedlich und reichten von sechs Morden bis zu Bagetelldelikten - geografisch quer über Mitteleuropa verteilt. 2009 entpuppte sich die „Frau ohne Gesicht“ als Mitarbeiterin eines Produzenten von Wattestäbchen, die Ermittler bei der Spurensuche nutzen. Die Frau hatte bei ihrer Arbeit die Tests mit eigener DNA verunreinigt.
Waffen bei NSU-Duo gefunden
Die Wende im Fall ereignete sich am 4. November 2011. Böhnhardt und Mundlos überfielen eine Bank und verschanzten sich in einem Wohnmobil, als die Polizei eintraf. Nach einem Schusswechsel setzten die beiden den Wagen in Brand und verübten Suizid - so die offizielle Darstellung.
Die beiden bildeten gemeinsam mit der festgenommenen Beate Zschäpe die NS-Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und waren für die Morde an neun Geschäftsleuten türkischer und griechischer Abstammung verantwortlich. Im Wohnwagen wurden die Dienstwaffen der Heilbronner Polizisten gefunden, in ihrer ebenfalls ausgebrannten Wohnung die Tatwaffen von 2007. Böhnhardt und Mundlos töteten also auch Kiesewetter, so die Ermittler. Aber wieso?
Reiner Zufall?
Die Polizisten seien Zufallsopfer und Kiesewetter als Repräsentantin des Staates umgebracht worden, so die These des Generalbundesanwalts. Das Motiv sei zudem gewesen, dass die Täter die Polizeiwaffen erbeuten wollten. Das gab später auch Zschäpe in Verhören an. Doch Zusammenhänge und Zeitabläufe legen nahe, dass es sich nicht um Zufall handelt. Die in Medienberichten und zahllosen Sitzungen von Untersuchungsausschüssen genannten Indizien bieten reichlich Stoff für Spekulationen - bis hin zu Verschwörungstheorien.
Wie Böhnhardt und Mundlos stammte Kiesewetter aus Thüringen, in Kiesewetters Heimatort betrieb Böhnhardts Schwager ein Lokal. Sowohl privat als auch beruflich gab es Verbindungen in die rechtsextreme Szene. Ihr Onkel, ebenfalls Polizist, ermittelte in den 90er Jahren gegen Neonazis in Thüringen. Er stellte als Erster eine Verbindung zwischen dem Tod seiner Nichte und der damals noch ungelösten Mordserie an Migranten her - schwieg später aber dazu. Und sein ehemaliger Vorgesetzter war es, der im ausgebrannten Wohnmobil die Polizeiwaffen fand. An der Beweissicherung gab es später schwere Kritik.
Keine DNA-Spuren an Opfern
Widersprüchlich sind vor allem die Spuren und Zeugenaussagen in Heilbronn. Warum fuhren die Täter ausgerechnet nach Heilbronn, um zwei Polizisten auf der Theresienwiese zu töten? Warum wurden andere Tatwaffen verwendet als bei den anderen NSU-Morden? Weder an Kiesewetter noch an ihrem Kollegen wurden DNA-Spuren der angeblichen Täter gefunden. Beim Entwenden der Dienstwaffen müssen Täter und Opfer aber in Berührung gekommen sein.
In der Wohnung des NSU-Trios wurde eine Jogginghose mit einigen - aus Sicht einiger Medien sehr wenigen - Blutspritzern Kiesewetters gefunden. Das könnte für eine dritte an der Tat beteiligte Person sprechen, hieß es weiter. An der Hose sowie auf dem Rücken des angeschossenen Polizisten wurde zudem DNA gefunden, die niemandem zuordenbar ist. Eine Tatrekonstruktion warf Zweifel auf, wie die Schusswinkel zustande kommen konnten.
Widersprüchliche Zeugenaussagen
Mehrere Zeugen wollten blutverschmierte Menschen in der Nähe des Tatorts gesehen haben. Zwei Zeugen berichteten unabhängig voneinander von drei Männern, ein anderer von zwei Männern und einer Frau. Die angefertigten Phantombildern haben - so Medien - keine Ähnlichkeiten mit Böhnhardt und Mundlos. Auch ein Phantombild auf Basis der Erinnerungen des angeschossenen Polizisten soll angefertigt worden sein, erst später hieß es, er könne sich an nichts erinnern. Wie sehr die widersprüchlichen Indizien die Spekulationen anheizten, zeigte sich spätestens, als einige Medien berichteten, dass auch US-Agenten bei der Tat an Ort und Stelle gewesen sein sollen.
Schriftzug bei Tatort entdeckt
Sogar jetzt kommen noch neue Aspekte ans Tageslicht: Filmemacher Clemens Riha identifizierte drei in schwarzer Farbe auf eine Wand am Tatort in Heilbronn geschriebenen Buchstaben - „NSU“ - beim Sichten von Archivmaterial des SWR. Ein Sprecher des Generalbundesanwalts in Karlsruhe sagte im April, der Medienbericht sei bekannt: „Wir werden dem noch nachgehen.“ Ob der Fall jemals aufgeklärt wird, steht in den Sternen. In einem U-Ausschuss hieß es: Die Aufklärung der NSU-Verbrechen werde „immer noch und immer wieder von Behörden und Verantwortlichen torpediert“.
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