„Der Taksim-Platz gehört uns“
In der türkischen Metropole Istanbul ist es am Montag zu schweren Krawallen gekommen. Bei Protesten zum Tag der Arbeit gab es auch mehr als 200 Festnahmen. Die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschoße gegen Demonstranten ein, die zum zentralen Taksim-Platz marschieren wollten.
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Der Istanbuler Gouverneur erklärte, einige illegale Gruppen hätten versucht, die Feiern zum 1. Mai als „Vorwand“ für Proteste gegen die Regierung zu nutzen. Laut der Nachrichtenagentur DHA seien Handgranaten, Brandsätze und Feuerwerkskörper beschlagnahmt worden. Die Demonstranten skandierten: „Der Taksim-Platz gehört uns.“ Die Behörden hatten wie auch in den Jahren zuvor Kundgebungen zum 1. Mai auf dem Taksim-Platz verboten. Tausende Gewerkschaftler und Regierungskritiker versammelten sich friedlich im Stadtteil Bakirköy, wo die Behörden eine Kundgebung erlaubt hatten.
30.000 Sicherheitskräfte im Einsatz
Die Gegend um den Taksim-Platz war hingegen weitläufig abgesperrt, Wasserwerfer und Busse zum Transport von Gefangenen standen bereit. Auch Helikopter kreisten laut der Nachrichtenagentur Reuters über der Stadt. Die Zufahrtsstraßen waren in weitem Umkreis gesperrt, die Metrostation geschlossen. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu waren mehr als 30.000 Sicherheitskräfte in Istanbul im Einsatz. Ein Mensch kam bei einem Unfall durch einen Wasserwerfer ums Leben.
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Mehr als 200 Festnahmen in Istanbul - seit dem Putschversuch im vergangenen Sommer steigen die Spannungen in der Türkei stetig
Für Gewerkschaften hat der Taksim-Platz eine besondere Bedeutung. Am 1. Mai 1977 eröffneten dort Heckenschützen das Feuer auf eine Demonstration mit rund 500.000 Teilnehmern. Mindestens 34 Menschen starben. Bis heute ist unklar, wer die Täter waren. Seit den Gezi-Unruhen im Sommer 2013 wurden auf dem Platz keine Proteste mehr zugelassen.
Auch in Ankara versammelten sich rund 6.000 Menschen zum 1. Mai, wobei die Menge Buchstaben in die Höhe hielt, die in Anspielung auf das Verfassungsreferendum das Wort „Hayir“ (Nein) bildeten. Zudem gab es Banner mit der Aufschrift „Nein heißt Nein“.
Erneut Tausende Entlassungen
Die Spannungen in der Türkei nehmen immer mehr zu. Vor zwei Wochen hatte bei einem umstrittenen Referendum eine knappe Mehrheit für eine kontroverse Verfassungsänderung zur Ausweitung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan gestimmt. Die Opposition sieht darin einen Schritt zur Autokratie und wirft der Regierung vor, die Abstimmung manipuliert zu haben.
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Am Montag vermischten sich Demos für besseren Lohn mit Anti-Erdogan-Protesten in Istanbul
Auch nach dem Votum geht Erdogan mit aller Härte gegen politische Gegner vor. Per Notstandsdekret wurden erneut fast 4.000 Staatsbedienstete entlassen, darunter 1.200 Angehörige der Streitkräfte. Auch 1.127 Angestellte des Justizministeriums sowie 201 Mitarbeiter der Religionsbehörde Diyanet wurden gefeuert. Auch die Wahlkommission, das Verfassungsgericht und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte waren betroffen.
Sorge bei der UNO
Unter dem Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Militärputsch im vergangenen Juli verhängt worden war, wurden bisher rund 120.000 Staatsbedienstete entlassen, mehr als 47.000 wurden inhaftiert. Betroffen sind vor allem mutmaßliche Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, dessen Bewegung von Ankara für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird.
Aber auch kurdische Aktivisten, Oppositionsanhänger und Regierungskritiker wurden entlassen. Durch das neueste Dekret wurden 484 Dozenten und Forscher sowie 98 Verwaltungsmitarbeiter von Universitäten ihrer Posten enthoben. Darunter waren auch Unterzeichner einer Petition für Frieden mit den Kurden, wie die Zeitung „Daily News“ berichtete.
UNO-Menschenrechtskommissar Al Hussein kritisierte, bei einer so großen Zahl an Entlassungen sei es „höchst unwahrscheinlich, dass diese Suspendierungen und Festnahmen den Verfahrensregeln entsprechen“. Er sei „äußerst beunruhigt“ über den im April verlängerten Ausnahmezustand und über das „Klima der Angst im Land“, erklärte er am Montag.
Dekrete gegen Kuppelshows
Auch die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) äußerte scharfe Kritik. „Die Grundrechte und Freiheiten werden durch die Notstandsdekrete zerstört“, schrieb ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu in einer Erklärung zum 1. Mai. Er kritisierte insbesondere die Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter dem Ausnahmezustand.
Mit dem Notstandsdekret von Samstag wurden auch Heiratsshows im Fernsehen verboten. Sie erfreuen sich in der Türkei großer Beliebtheit, stoßen aber bei konservativen Muslimen auf Kritik. Jedes Jahr gibt es Tausende Beschwerden dagegen. Vizeministerpräsident Numan Kurtulmus hatte im März kritisiert, die Shows passten nicht zu türkischen Sitten.
„Wurde der Putschversuch von Heiratsshows unternommen?“, fragte der Oppositionsabgeordnete Tanrikulu nach dem Verbot in der Zeitung „BirGün“. „Wurde der Ausnahmezustand wegen Heiratsshows erlassen?“ Auch die Kolumnistin Nuray Mert äußerte sich besorgt über das neueste Dekret. Die Shows seien in der Tat „Trash“, schrieb sie am Montag in der „Hürriyet Daily News“. Doch „wer weiß, was als Nächstes per Dekret verboten wird“.
Opposition: „Dekrete werden missbraucht“
Bereits Ende März hatte Erdogan bei einer Zeremonie mit Kosmetikerinnen ein Dekret unterzeichnet, das die Methoden zur Haarentfernung reguliert. Im Internet reagierten viele Nutzer verblüfft und spöttisch. „Die Experten zur Haarentfernung, die eine zentrale Rolle in der Putschnacht vom 15. Juli spielten, wurden nun per Notstandsdekret freigelassen“, so ein Nutzer auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
Die Opposition beklagt seit Langem einen Missbrauch der Dekrete zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. „Die Dekrete sollten ausschließlich für die Gründe des Ausnahmezustands benutzt werden, doch in ihrer gegenwärtigen Form ist das nicht der Fall“, sagte der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu der Nachrichtenagentur AFP. Nicht alle Dekrete seien schlecht, doch würden sie „missbraucht“. Mit ihnen „reißt die Regierung die Rechte des Parlaments an sich“, das sei „komplett illegal“, kritisierte der Oppositionsvertreter.
Dekrete kamen nicht vors Parlament
Am Samstag wurde auch der Zugang zum Onlinelexikon Wikipedia von der Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) blockiert. Internetnutzer konnten Wikipedia nur noch mit technischen Hilfsmitteln wie VPN-Verbindungen aufrufen.
Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 wurden bereits zwei Dutzend Notstandsdekrete erlassen, doch nur eine Handvoll bisher dem Parlament vorgelegt. Dabei müssen auch unter dem Ausnahmezustand sämtliche Dekrete von der Volksvertretung gebilligt werden. Zudem dürfen Dekrete eigentlich nur verwendet werden, wo das zur Umsetzung des Ausnahmezustands notwendig ist.
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