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Das kleine Fischerdorf Quantou rund 60 Kilometer südlich von Peking soll zum neuen Silicon Valley Chinas werden. Die Regierung erklärte die umliegende Region in der Provinz Hebei zur neuen Sonderwirtschaftszone. Ein globales Finanz- und Technologiezentrum solle entstehen, entscheidend „für die nächsten 1.000 Jahre Chinas“, schrieb die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua.

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Der Aufbau von wirtschaftlichen Sonderzonen, in denen etwa niedrigere Steuersätze und weniger strenge Bedingungen für ausländische Investoren gelten, hat seit Beginn der Öffnungspolitik Ende der 70er Jahre Tradition in China. Sie sind ein beliebtes Mittel der Regierung, um die Wirtschaft in bestimmten Regionen des Landes anzukurbeln - sowie Teil einer großen Urbanisierungsstrategie: Dörfer mit ein paar tausend Einwohnern schwollen so zu Millionenstädten an.

Karte zeigt Xiongan

Grafik: Map Resources/ORF.at

In der Region Xiongan zeigt sich im Kleinen, wie die chinesische Regierung Wirtschaft und Stadtentwicklung vorantreibt. Oft reichen ein paar Worte eines politischen Entscheidungsträgers, um Bauträger, Finanzhaie und Spekulanten auf den Plan zu rufen.

Chinas Stadt der Zukunft

Nach der Ankündigung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping stand die Region um das Dorf Quantou, das am Fuße des Flusses Bayang und in einem der größten Sumpfgebiete im Norden Chinas liegt, plötzlich im Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit. In Hebei, einer armen, von rückständiger Schwerindustrie geprägten Provinz, soll sich die Hightech-Branche niederlassen und unter dem Namen „Neue Zone Xiongan“ Chinas Metropole der Zukunft entstehen.

Als zwei Tage nach der Ankündigung der Börsenhandel in Schanghai wieder startete, stiegen die Preise der Aktien von 40 Bauträgern, Stahlproduzenten und anderen Profiteuren des Projekts um bis zu zehn Prozent. In Onlineforen wurden die Männer aus Xiongan scherzhaft als die begehrtesten des Landes gepriesen, und innerhalb von Stunden häuften sich die Forderungen nach Aufenthaltsgenehmigungen für die Region.

Bauverbot und „Heiratsstopp“

In den Straßen der neu erklärten Sonderzone hätten sich plötzlich Luxuslimousinen gedrängt, und Spekulanten mit Geldkoffern seien zwischen den Häusern Xiongans gestanden, berichtete die „Financial Times“. Doch viele von ihnen kamen für den Immobilienkauf zu spät. Der Quadratmeterpreis hatte sich innerhalb kürzester Zeit mehr als verdoppelt. Einen Tag später griff die Regierung ein, verbot vorerst alle neuen Verkäufe in der Region und erließ strenge Vorschriften, wer in Xiongan zukünftig Immobilien erwerben darf.

Bereits Anfang des Jahres sei der Bau von Häusern in und um Quantou verboten worden, berichteten Bewohner der „Financial Times“. Das sei bereits ein sicheres Zeichen dafür gewesen, dass ihr Dorf - so wie viele andere Chinas - zerstört werden würde. Denn um Platz für den städtischen Fortschritt zu schaffen, müssen die Bewohner Quantous ihr Zuhause räumen. Die chinesische Regierung rief sogar einen vorübergehenden „Heiratsstopp“ in der Region aus. Weder Ehen noch Daueraufenthaltsgenehmigungen werden zurzeit registriert, um gegen spekulative Immobiliengeschäfte vorzugehen.

Hightech auf 2.000 Quadratkilometern

„Was können wir sonst tun, als dorthin zu gehen, wo es uns die Regierung anordnet“, sagte ein Bewohner Quantons gegenüber der „Financial Times“. „Die Entscheidung wurde getroffen, also ist unsere einzige Option, der Aufforderung zu folgen.“ Die Bewohner werden vermutlich neue Unterkünfte und eine Entschädigung erhalten, wo und wie viel das sein wird, würden sie bisher nicht wissen.

Welche Vorteile Investoren künftig in der „Neuen Zone Xiongan“ genießen werden, ist noch unklar. Einzelheiten beschränken sich bisher auf ihre Größe. 100 Quadratkilometer soll sie anfangs betragen, auf lange Sicht könnte sie ein Areal von 2.000 Quadratkilometern umfassen, was rund zweieinhalbmal der Größe New York Citys entspricht.

Wirtschaftszone nach internationalen Standards

Laut Präsident Xi soll die Wirtschaftszone internationalen Standards entsprechen, umweltfreundlich und bürgernah sein - doch vor allem: Chinas schwächelnder Wirtschaft wieder Schwung verleihen. Im vergangenen Jahr betrug das Wachstum 6,7 Prozent und war das geringste seit dem Jahr 1990.

Blick auf Shenzhen

Reuters/Bobby Yip

Shenzhen: In den 70er Jahren noch ein Fischerdorf, ist die Stadt heute eine Millionenmetropole

Mittelfristig sollen auch staatliche Unternehmen und jene Behörden in Peking, die keine nationalen Aufgaben haben, in die neue Wirtschaftszone verlagert werden, kündigte die Regierung in einer Presseaussendung an. So will sie auch der Überbevölkerung Pekings entgegenwirken: In der Hauptstadt leben zurzeit rund 22 Millionen Menschen, seit Jahren kämpft sie mit dem starken Verkehrsaufkommen und der Luftverschmutzung.

Vom Fischerdorf zur Millionenmetropole

Die „Neue Zone Xiongan“ soll etwa dem Beispiel der an Hong Kong grenzenden Provinzstadt Shenzhen und Schanghais Stadtteil Pudong folgen. Als die chinesische Regierung Shenzhen zur Sonderwirtschaftszone erklärte, half sie dabei, Chinas Wirtschaftsreformen Anfang der 80er Jahre anzutreiben.

Das damalige Fischerdorf ist heute ein Industrie- und Hightech-Zentrum mit zwölf Millionen Einwohner und zählt zu den am schnellsten wachsenden Städten der Welt. Ähnlich auch Pudong, das als wirtschaftliche Sonderzone in den vergangenen 27 Jahren zu einem der größten Finanzzentren Chinas herangewachsen ist.

Neue Megacity

Die neue Spezialwirtschaftszone Xiongan ist Teil eines im Jahr 2015 initiierten Megaprojekts: Peking soll langfristig mit den zwei Nachbarregionen Tianjin und Hebei zur größten Stadt der Welt verschmelzen. Das neue urbane Gebiet „Jing-Jin-Ji“ soll sich über mehr als 200.000 Quadratkilometer erstrecken und wäre damit doppelt so groß wie Südkorea. Bereits jetzt leben rund 120 Millionen Menschen in dieser Region, die Megastadt soll mehr als 130 Millionen beherbergen. Krankenhäuser, Universitäten, Teile der Verwaltung und vielleicht sogar die Zentrale der Kommunistischen Partei könnten auf lange Sicht aus dem Zentrum Pekings verschwinden.

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