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Schwächung gemeinsamer Strukturen

Die Debatte über die Umverteilung von Flüchtlingen hat in den vergangenen Tagen einmal mehr gezeigt, dass sich die Innenpolitik der EU-Staaten immer stärker auf die Politik in der EU auswirkt und diese bremst. Dieses Mal war Österreich ganz vorne dabei.

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Es war ein für Brüssel verwirrendes Bild, das Österreichs Innenpolitik in den letzten Tagen abgeliefert hat: Obwohl der Beschluss zur Umverteilung von Flüchtlingen („Relocation“) 2015 auch von Österreich mitgetragen wurde, entbrannte im Land eine Debatte, ob nun tatsächlich Flüchtlinge aufgenommen werden sollen. Es gab zwar bis 11. März eine Ausnahmebestimmung für Österreich, damit wurde die Summe der aufzunehmenden Flüchtlinge allerdings nur für ein Jahr um 30 Prozent reduziert.

Von den restlichen 70 Prozent hat Österreich laut offizieller Statistik der EU allerdings bisher auch nichts erfüllt, sprich: keinen einzigen Flüchtling aufgenommen. Bis September 2017 müsste Österreich laut EU-Kommission 1.953 Menschen aufnehmen. Zu möglichen Konsequenzen für Österreich, das gemeinsam mit Ungarn und Polen die vereinbarte Quote bis jetzt überhaupt nicht erfüllt hat, wollte sich die Kommission nicht äußern. Welche Erfolgschancen das Ersuchen um weitere Verlängerung hat, wollte sie ebenfalls nicht sagen.

Eigene Regeln stören den Prozess

Er habe gar kein Problem damit, wenn Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) einen Brief an Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker für eine neuerliche Ausnahme schreibe, so Stefan Lehne vom europäischen Ableger des US-Thinktanks Carnegie Endowment for International Peace. Das sei grundsätzlich das normale Prozedere. Es werde aber dann problematisch, wenn man sich über gemeinsame Regeln und verbindliche Beschlüsse hinwegsetzt und einfach sage, man steige aus. „Dann wird das Ganze zu einem desintegrativen Prozess.“

EU-Sitzung

APA/AFP/John Thys

Im EU-Rat sind alle EU-Staatschefs vertreten - und treffen dort auch die Entscheidungen gemeinsam

Die Innenpolitik der jeweiligen EU-Staaten habe immer auch auf EU-Ebene eine wichtige Rolle gespielt, doch in den letzten Jahren sei sie verstärkt als Druckmittel eingesetzt worden, meint Politikwissenschaftler Florian Trauner vom Institute for European Studies in Brüssel. Ungarns Viktor Orban etwa habe versucht, sich mit seiner Abstimmung zu den Umsiedlungsmechanismen die Legitimität zu verschaffen, um die EU zu blockieren, statt den klassischen Weg der politischen Debatte in den EU-Gremien zu nützen.

„America first, Österreich first“

Es habe eine Renationalisierung in Europa eingesetzt, sagt Lehne. „Es gibt nicht nur America first, sondern auch Österreich first oder Deutschland first.“ Als Grund für diese immer schneller werdende Entwicklung nennt Lehne vor allem die jüngsten Krisen, allen voran die Finanzkrise, aber auch die Flüchtlingskrise. Es gebe allerdings noch ein viel tiefer liegendes Problem: Die Konvergenz der EU-Staaten, also das angestrebte Zusammenwachsen, sei nicht so wie gedacht erreicht worden.

Im Gegenteil: Lehne sieht ein Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Orientierungen, der politischen Ziele, der wirtschaftlichen Kapazitäten, und das schwäche den Zusammenhalt der EU-Staaten. „Vielleicht haben wir überschätzt, was die Beteiligung am europäischen Prozess an Veränderungen möglich macht.“ Die zunehmende Heterogenität und der krisenbedingte Egoismus führe nun dazu, dass jeder versuche, seine eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, so Lehne - und das merke man auch gerade im österreichischen Diskurs sehr stark.

Solidarität schrumpft mit Nähe zur Wahl

Der Aufstieg der populistischen Parteien habe zudem dazu beigetragen, dass Parteien der politischen Mitte, die die Konkurrenz fürchten, ähnliche Positionen übernehmen oder nach rechts driften. Auch das sei im österreichischen Diskurs ein wichtiger Faktor. Die positive Haltung zur EU, die Bereitschaft zur Solidarität werde aus Angst vor der nächsten Wahl stark geschwächt - wie zuletzt in den Niederlanden. Aber selbst wenn die gemäßigten Kräfte gewinnen, habe die Auseinandersetzung bis dahin auch negative Konsequenzen auf das innenpolitische Klima.

Oft werde nur kurzfristig versucht Theater zu machen, um dann doch an einer mittel- bis langfristigen Lösung mitzuarbeiten, sagt Trauner weiter. Die Slowakei etwa habe wie Ungarn auch Klage gegen die „Relocation“ eingebracht, nehme jetzt aber doch zumindest einige Flüchtlinge auf. Im Prozess dahin werde jedoch auch die Institution EU geschädigt, indem die Glaubwürdigkeit am gemeinsamen Projekt unterminiert werde - was wiederum gemeinsame Lösungen teilweise noch schwieriger mache und etwaige Kosten auf allen Seiten erhöhe.

EU als Plattform für Interessenausgleich

Dass die EU zerfällt, glauben Lehne und Trauner nicht. Die EU habe schon viele Krisen überstanden, so Trauner. Es sei zwar immer eine Herausforderung, die Interessen von 27 Mitgliedsstaaten unter einen Hut zu bringen, aber die EU sei eben auch genau die Plattform für einen Interessenausgleich. Selbst wenn es die EU nicht geben würde, gebe es die unterschiedlichen Interessen doch, die auch abgeglichen werden müssten. Da sei es doch besser, die bestehende Plattform weiterzuentwickeln.

Zugeständnisse ermöglichten „Brexit“

Die Wahl von Donald Trump und der „Brexit“ seien Warnschüsse gewesen, das zeige die steigende Zustimmung zur EU, so Lehne. Er fürchtet allerdings, dass die EU statt in Richtung mehr Zusammenarbeit ein immer lockerer Verbund werde und wichtige Themen wie die Konsolidierung des Euro oder Schengens nicht vom Fleck kommen. Und das beste Modell sei immer noch ein gemeinsamer Fortschritt, also auch ohne unterschiedliche Geschwindigkeiten - diese seien nur seit Anbeginn der EU Realität.

Man müsse vermeiden, dass die EU im Versuch, alles zusammenzuhalten, so rigid werde, dass die zentrifugalen Kräfte sie „schließlich in die Luft sprengen“, man dürfe aber auch keine Einladung zur Rosinenpickerei geben: Denn gerade die Zugeständnisse an Großbritannien und die Lockerung der Verbundenheit hätten schließlich den „Brexit“ erst ermöglicht, ist sich Lehne sicher.

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