Ankara droht mit Aussetzen des Deals
Ein Jahr nach Abschluss des EU-Türkei-Flüchtlingspakts droht Ankara einmal mehr mit dessen Aufkündigung: „Wenn ihr wollt, schicken wir euch die 15.000 Flüchtlinge, die wir jeden Monat zurückhalten“, sagte der türkische Innenminister Süleyman Söylu diese Woche.
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Deutschland zeigte sich unbeeindruckt von den türkischen Drohungen. „Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass die Türkei dieses Abkommen ausgesetzt hat“, sagte der stellvertretende deutsche Regierungssprecher Georg Streiter am Freitag. Die Vereinbarung sei ein „gemeinsamer Erfolg“, deren Umsetzung „im Interesse aller Beteiligten“ liege. Auch Außenminister Sebastian Kurz sagte in der ORF-„Pressestunde“ am Sonntag, man könne darüber streiten, inwiefern der Pakt ausgesetzt sei.
Die EU-Kommission feierte das Abkommen als Erfolg. Die irregulären Ankünfte in Griechenland seien „um 97 Prozent gesunken“, teilte die Kommission am Freitag in Brüssel mit. Im Jahr vor dem EU-Türkei-Abkommen seien 988.703 Flüchtlinge in Griechenland angekommen, seit dem 18. März 2016 sei diese Zahl auf 27.711 gesunken.
Streit um Wahlkampfauftritte
Die Türkei drohte bereits mehrfach damit, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen. Zuletzt hatte Außenminister Mevlüt Cavusoglu im Streit um türkische Wahlkampfauftritte in den Niederlanden und Deutschland mit der Annullierung gedroht und erklärt, die Rücknahme von Flüchtlingen von den griechischen Inseln sei ausgesetzt.
Der am 18. März 2016 geschlossene Flüchtlingspakt sieht vor, dass die Türkei alle Flüchtlinge zurücknimmt, die auf die griechischen Ägäis-Inseln kommen. Im Gegenzug versprach die EU Unterstützung bei der Versorgung der knapp drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei sowie die Aufnahme eines syrischen Flüchtlings für jeden Syrer, der im Rahmen der Vereinbarung in die Türkei zurückgeschickt wird.
Kritik von UNICEF
Außerdem sagten die EU-Staaten Visafreiheit für die Türkei und die Beschleunigung der EU-Beitrittsverhandlungen zu. Wegen der Repressionen der türkischen Führung gegen ihre Gegner, die seit dem Putschversuch vom 15. Juli deutlich verstärkt wurden, wurden die Beitrittsgespräche aber auf Eis gelegt. Die Gewährung der Visafreiheit wiederum macht die EU von der Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze abhängig.
Der UNICEF-Nothilfeexperte Lucio Melandri sagte in Genf, der Pakt müsse angesichts „nicht gehaltener Zusagen“ unbedingt überdacht werden. So habe sich die EU in einem zentralen Punkt des Abkommens verpflichtet, mindestens 120.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufzunehmen und zu verteilen. Tatsächlich seien aber nur gut 14.400 Flüchtlinge verteilt worden, sagte Melandri.
Menschen „keine Tauschware“
Mit Blick auf die türkischen Drohungen kritisierte der UNICEF-Experte, Asylwerber dürften nicht als „Tauschware“ missbraucht werden. Mit dem Schicksal von Flüchtlingen dürfe nicht manipulativ umgegangen werden.
Mehrere Hilfsorganisationen zogen eine alarmierende Bilanz am Jahrestag. Der Flüchtlingspakt verursache „immenses menschliches Leid“, schrieben Oxfam, das International Rescue Committee (IRC) und der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) in einem am Freitag veröffentlichten Bericht. Der Pakt dürfe nicht als Vorlage für weitere Abkommen mit anderen Ländern dienen, wie das derzeit etwa mit Libyen diskutiert wird. Vernichtend fiel auch das Urteil von Amnesty International (AI) aus: „Der EU-Türkei-Deal hat nichts mit dem Schutz von Geflüchteten zu tun“, betonte John Dalhuisen, Europadirektor von Amnesty in einer Aussendung.
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