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Prilepin und die Angst vor Russland

Sachar Prilepin ist Star- und Skandalautor zugleich. Im Interview mit ORF.at spricht er über das schwierige Verhältnis des Westens zu Russland und über Schriftsteller, Musiker und Politiker, für die er ein eigenes Dorf gründen will.

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ORF.at: Sie sind derzeit der Autor des Jahres in Russland. Wie wichtig ist Ihnen dieser Status?

Sachar Prilepin: Von den Zahlen her ist das nicht ganz richtig. Es gibt noch zwei Frauen, die Frauenromane schreiben, und ihre Bücher verkaufen sich noch besser als meine. Ich bin unter den Top Five der meistverkauften und meistzitierten in den Medien. Das heißt, ich werde am meisten erwähnt und am häufigsten interviewt, aber ich habe es nicht darauf angelegt, diesen Status zu erlangen, das hat sich von allein ergeben, die Bücher verkaufen sich einfach gut, und wenn es mal weniger ist, macht es auch nichts. Ich habe meine Leserschaft, und ich bin nicht darauf angewiesen, jedes Jahr einen neuen Roman zu schreiben, um diesen Status aufrechtzuerhalten. Es gibt wichtigere Dinge. Ich bin viel mehr besorgt über die Situation in Donezk als über die „Hundehochzeit unserer Literatur“, wie Puschkin sich ausgedrückt hätte.

ORF.at: Sie schreiben im Wesentlichen für ein russisches Publikum. Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihre Werke in andere Sprachen übersetzt werden?

Prilepin: Wissen Sie, es ist wichtig zu verstehen, dass niemand für irgendeine bestimmte Bevölkerung schreibt. Zu glauben, dass es bestimmte serbische, türkische oder sonstige Probleme gibt, die nur diese Länder etwas angehen, das ist alles nicht wahr. Orhan Pamuk schreibt über türkische Probleme, und alle finden das interessant. Kusturica dreht stark serbisch geprägte Filme, die in der ganzen Welt gemocht werden. Dostojewski hat über russische Probleme geschrieben, und er ist der berühmteste Schriftsteller der Welt. Und so weiter. Die Seele, der Mut, die Weiblichkeit – das sind allgemeinmenschliche Dinge, es ist vollkommen egal, wo sie passieren.

ORF.at: Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihre Werke in anderen Ländern gelesen werden?

Prilepin: Natürlich ist das angenehm, aber ich denke sehr wenig darüber nach. Ich unterhalte die intensivsten Beziehungen zu Frankreich und zu Serbien, das sind die zwei Länder, in denen alle meine Bücher übersetzt sind. Amerikanische und chinesische Leser empfinde ich als weit weg, sie sind irgendwie ... zu ihnen spüre ich wenig Kontakt. Je weiter in diese Richtung, desto komplizierter wird es. Mit den Italienern verbindet mich dagegen vieles. Deshalb denke ich darüber nicht nach. Ich versuche nicht, mir zu überlegen, was ich mit meinen Lesern in anderen Ländern tun soll. Es ist gut, dass es sie gibt.

ORF.at: Sie planen, ein Literaturdorf zu errichten, inspiriert von Emir Kusturicas „Drvengrad“, in der Nähe von Moskau.

Prilepin: Ja, ein Ort für Schriftsteller, Musiker, Politiker ... Heißen wird es „Chutor Sachara Prilepina“ („Sachar-Prilepin-Bauernhof“). Wir seltsamen, frei denkenden Menschen müssen uns versammeln, damit wir uns nicht einsam fühlen, weil das globale Establishment gegen uns eingestellt ist. Auf solche Leute wie Kusturica und mich wartet niemand, weder im Nobelpreiskomitee noch in Cannes, keiner wartet dort auf uns, und deshalb müssen wir uns versammeln, wir müssen uns gegenseitig zuhören.

ORF.at: Wurden Sie von Kusturicas Dorf zu Ihrem Projekt inspiriert?

Prilepin: Ich habe mein Dorf, dort haben sich meine Freunde auch früher schon versammelt, 30 oder 40 oder 50 Freunde, und irgendwann wurde mir klar, dass man das systematisch betreiben sollte, man sollte regelmäßig Treffen und Festivals organisieren, aber ich möchte mein eigenes Dorf nicht dafür hergeben, außerdem ist es entlegen, weit weg von der Zivilisation, und das Dorf Mir ist gut geeignet. Es gibt ja Städtepartnerschaften, wir werden Dorfpartnerschaften haben.

ORF.at: Es gibt den westlichen Blick auf Russland, und es gibt Ihren Blick auf Russland. Inwiefern ähneln sich dieser Perspektiven, welche Unterschiede gibt es?

Prilepin: Das ist ein breites Themenfeld, damit könnte man ganze Bücher füllen. Einerseits gibt es den massenhaften Blick auf Russland; die Hollywood-Filme haben den Menschen ein halbes Jahrhundert lang Angst vor Russland eingejagt, so lange, bis man es irgendwann wirklich geglaubt hat und selbst Angst bekommen hat. Jetzt glauben die Menschen im Westen, dass die Russen alle Fellmützen tragen und betrunken sind, alles um sich herum kurz und klein schlagen, aber auch Weltraumschiffe reparieren, ohne Schutzanzug im Weltraum herumschweben. Vor Kurzem gab es einen Film, „Everest“, da gibt es einen prosaischen russischen Charakter, ein Bergsteiger; alle rundherum sind schon erfroren und gestorben, er aber geht herum ohne Sauerstoffflasche. Das ist genial.

Und es ist auch eine wahre Geschichte, er war wirklich ohne Sauerstoffflasche unterwegs und hat viele Menschen gerettet, aber dennoch ist er nicht die Hauptfigur, sondern es gibt dort irgendeinen Amerikaner und irgendwelche Europäer, und dieser Russe, der auftaucht, das ist sehr komisch, das ist so ein übliches Bild. Und es gibt auch eine andere Sicht auf Russland, die von Dostojewski beeinflusst ist. Aber im Westen glaubt man wirklich, dass in Russland alle so sprechen wie die Figuren in Dostojewskis Romanen. Das stimmt überhaupt nicht.

Dostojewski hat ein eigenes Volk geschaffen, das Dostojewski-Volk, und die Angehörigen dieses Volkes sprechen immer in langen Monologen, werden immer wieder hysterisch, aber in Russland gibt es das nicht. Die Russen sind düstere, eher wortkarge Menschen, die ihre Worte bedächtig wählen, aber die geniale Leistung von Dostojewski besteht darin, dass er das Innenleben des russischen Menschen beschrieben hat, das alles passiert in unserem Inneren. Und zwar nicht im Inneren eines einzelnen Menschen, sondern im gesamten Volk gleichzeitig. Bei uns ist es so, dass Tausende Menschen den gleichen Gedanken haben. Aber das kann man dem Westen nicht erklären. Diese Dissonanz ist sehr quälend.

Einerseits haben wir Tschaikowski, das Ballett, die Literatur, den genialen Rachmaninow, und andererseits dieses düstere Volk. Wie ist das möglich? Wie zwei verschiedene Völker, die man unmöglich vereinigen kann. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass es sich um ein Volk handelt. Immer wird versucht, eine Teilung zu vollziehen, hier haben wir also Stalin, da Pasternak, Mandelstam, Jessenin, da ist Beria, aber es ist alles eine Einheit, man kann es nicht zergliedern. Man kann nicht sagen, das Schlechte tun wir weg, das Gute nehmen wir, und aus dem Guten machen wir gute Russen. Die Russen sind nur so, wie sie sind. Sie sind gut, schlecht, böse und gutmütig zugleich.

Prilepin: Was sollte man Ihrer Meinung nach zur Zeit in der russischen Gesellschaft verändern?

Prilepin: Unsere Gesellschaft ist konservativ, es ist eine paternalistische Gesellschaft, mit einer Vorliebe für traditionelle Werte, aber das Bürgertum und die Intelligenzija sind absolut prowestlich. Da gibt es eine starke Dissonanz. Und man muss da zu einem gemeinsamen Nenner finden. Und wenn Russland die Entscheidung getroffen hat, die Russen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion nicht im Stich zu lassen, dann sollte dieser Entschluss laut kommuniziert werden, die Menschen sollten die Spielregeln verstehen.

Bei uns beherrschen die Liberalen die Wirtschaft, zugleich pflegt das Land die sowjetische Hymne, die Armee rüstet auf, aber niemand spricht darüber, auf den Covern sind immer nur langbeinige Frauen zu sehen und keine Mütter mit vielen Kindern, Offiziere oder Bauern, also es ist ein Wahnsinn, so eine leichte Phantasmagorie, wir sagen das eine, unternehmen das andere, tun etwas Drittes, sehen etwas Viertes, es entsteht also eine leichte Form der Absurdität.

Viele Menschen im Westen sehen Russland so wie in der Zeit nach der Revolution von 1917, so als würde dort jetzt eine neue „Prawda“ entstehen, aber wenn sie nach Russland kommen, sehen sie dort genau das Gleiche wie im Westen, eine verrückt gewordene Welt, eine metaphysische Prostitution, und dann sind sie verwirrt, Russland sollte doch anders sein, es hieß doch, die Russen seien anders, aber dann stellt sich heraus, nein, die Russen sind genau gleich wie wir, worin liegt also das Problem? Was soll man tun ...

Prilepin: Wird im Roman „Sankya“ der Nihilismus in Russland porträtiert?

Prilepin: Nein, im Gegenteil, es geht um die Suche nach der Tradition. Junge Menschen, die sich selbst wieder wie Söhne empfinden wollen, die also wollen, dass ihre Heimat die Elternrolle übernimmt, damit sie nicht wie unbeaufsichtigte Kinder dastehen. Denn diese jungen Menschen haben sich unter Jelzin, in den 90er Jahren, wie im Stich gelassene Kinder ohne elterliche Aufsicht gefühlt.

In den Nullerjahren hatten sie das Gefühl, da wäre der Staat auf der einen Seite und sie auf der anderen Seite, sie hatten ihre eigenen Firmen, tanzten auf ihren eigenen Partys, fuhren im Mercedes herum, und sie hatten das Gefühl, sie würden so leben wie Mogli im Dschungel. Das ist kein Nihilismus. Ganz im Gegenteil, das ist Traditionalismus.