Stöbern in den News von gestern
Warum sollten die Nachrichten vergangener Jahrhunderte interessieren? Weil das Damals auch etwas über das Heute erzählt: Das Projekt AustriaN Newspapers Online (ANNO) der Nationalbibliothek macht digitale Streifzüge, etwa in die aufgekratzte Meinungsvielfalt der Zwischenkriegszeit, möglich und lässt erkennen, dass das Prinzip der medialen „Echokammer“ vielleicht weniger neu ist, als man denkt.
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„Die Bluttat eines Irrsinnigen“, „Die Riesenkatastrophe des (sic!) Titanic“: Mit diesen und ähnlichen Schlagzeilen buhlten österreichische Zeitungen schon vor 100 Jahren um Leser. Auch damals waren schlechte Nachrichten die besten Nachrichten, und wer glaubt, es lebe sich heute gefährlicher als vor 100 Jahren, kann mit der Volltextsuche schnell die Probe aufs Exempel machen. „Diebstahl“, „Messerstecherei“ und „Einbruch“: In der Lokalchronik einer Wiener Tageszeitung ging es damals nicht hübscher zu als heute. Nur, dass die Delinquenten (und Opfer) damals namentlich genannt wurden.
Und so stößt, wer Pech hat, bei der Volltextsuche nach dem eigenen Nachnamen auf Begriffe wie „Unterschlagung“ oder „Defraudant“ (Betrüger) und kann das eine oder andere verschwiegene Detail über seine Ahnen erfahren. Der alte Spruch, dass das Internet nichts vergisst, gilt auch für Papierarchive. Nur, dass es bisher für Laien schwer war, deren Inhalte zu durchsuchen.
Über 17 Millionen Zeitungsseiten online
Mit der Volltextsuche des Projekts ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) wird sich das jetzt ändern. Historikern und neugierigen Laien erleichtert es die Suche in digitalisierten Zeitungen und Zeitschriften. Seit 2003 hat die ÖNB ihre Zeitungsbestände kontinuiertlich digitalisiert und online gestellt, jährlich rund eine Million Seiten. Mittlerweile sind rund 1.000 Zeitungs- und Zeitschriftentitel mit über 17,2 Millionen Seiten online verfügbar - und täglich werden es mehr. Diese Seiten kann man mit der Volltextsuche nach bestimmten Schlagwörtern, Adressen oder Namen durchsuchen.

ANNO/Österreichische Nationalbibliothek
Im Jahr 1912 war die „Titanic“ offenbar noch männlich
Schnell fündig wird der neugierige Laie bei ANNO, wenn er nach der eigenen Wohnadresse sucht: Zu einer Wiener Adresse im 20. Bezirk findet sich die Werbeanzeige eines Friseurgeschäftes aus den 1920er Jahren, ein paar Jahre später der Bericht über einen Einbruch im Schuhgeschäft daneben. Beide Geschäfte existieren längst nicht mehr, aber die Zeitung hat sie sich gemerkt.
Und auch aus den Kleinanzeigen, die die Suche ebenfalls durchkämmt, erfährt man etwas über den vergangenen Alltag. Gerade solche Gebrauchstexte spiegeln die Vergangenheit auf ganz direkte Weise wider. Ein früherer Mieter des besagten Hauses inseriert seine gesamte Wohnungseinrichtung - „Messingbett, 2 Kästen, Garderobe, Diverses“ - als „billigst abzugeben“. Solche Anzeigen finden sich nach 1938 en masse, und man ahnt, was der traurige Hintergrund dieser Notverkäufe ist – auch, wenn statt des jüdischen Namens nur eine Chiffre angegeben ist.

ANNO/Österreichische Nationalbibliothek
Sensationslüsterne Berichterstattung gab es schon immer
Und auch für Historiker bietet die ANNO-Volltextsuche neue Möglichkeiten, sich einem Thema anzunähern. Ob sie sich nun mit dem Kohlebergbau, der Geschichte der Gewerkschaften oder der Einführung der Elektrizität befassen: Mit den richtigen Stichwörtern finden sich Artikel zu Themen, die sich zeitlich nicht genau eingrenzen lassen. Und natürlich kann man in ANNO auch nach historischen Personen suchen.
Suchbegriff: Sigmund Freud
„Sigmund Freud“, der die menschliche Erinnerung als äußerst willkürliches Archiv betrachtet hat, kann hier als Testperson dienen. Sucht man nach Freud, stößt man schnell auf einen Bericht in der „Salzburger Chronik“ vom 16. Oktober 1920. Unter dem Titel: „Aus dem Gerichtssaale“ wird hier berichtet, wie Freud im Jahr 1920 als Sachverständiger gegen den Nervenarzt Julius Wagner-Jauregg auftritt, mit dessen „Kurmethoden“ er „vom wissenschaftlichen Standpunkte aus nicht einverstanden“ ist.
Der Bericht zitiert Zeugen, die Wagner-Jauregg beschuldigen, „Kriegsnervöse“ des Ersten Weltkriegs mit Starkstromstößen „behandelt“ zu haben, um „sie zu zwingen, ihr angebliches Simulieren aufzugeben“. Es seien sogar Patienten gestorben, heißt es in dem Bericht.

ANNO/Österreichische Nationalbibliothek
Vergangene Katastrophen ähneln aktuellen: verschüttetes Hotel, 1899
Mit dem Namen des späteren Nobelpreisträgers für Medizin, Wagner-Jauregg, landet man in der Volltextsuche viele Treffer: Die „Illustrierte Kronenzeitung“ feiert den Wissenschaftler, der die Idee der Eugenik unterstützte, in ihrem Nachruf von 1940 als einen „Kämpfer für das Leben“. Sucht man dagegen zwischen Frühjahr 1939 und Frühjahr 1945 nach dem Namen „Sigmund Freud“, landet man exakt zwei Treffer. Projektleiterin Müller gibt auf Nachfrage zu bedenken, dass noch nicht alle Zeitungen der Kriegsjahre digitalisiert seien. Aber auch sie habe den Eindruck, dass die Gleichschaltung der Zeitungen unter den Nationalsozialisten ziemlich lückenlos funktioniert habe.
Entstehen und Vergehen von Zeitungen
Der Blick in vergangene Zeitungen lehrt überhaupt eine gesunde Skepsis gegenüber heutigen News. Es macht Spaß, auf ANNO einen beliebigen Tag der Zwischenkriegszeit in verschiedenen Zeitungen zu vergleichen: Was hält die kommunistische, was die Zeitung der NSDAP und was das kirchennahe Blatt für berichtenswert? Und wie ist die gleiche Meldung im jeweiligen Medium verpackt?
Die kommunistischen Zeitungen werden kurz nach dem Anschluss 1938 verboten, manche wie die „Rote Fahne“ werden aus dem Untergrund weiter verbreitet. Und auch im Entstehen und Vergehen von Zeitungen, das man auf ANNO unter dem Menüpunkt „Jahresübersicht“ verfolgen kann, spiegelt sich der Geist der jeweiligen Zeit wider.

ANNO/Österreichische Nationalbibliothek
Dieser „Roofer“ brachte 1903 lediglich einen Blitzableiter am Stephansdom an
Gibt es politische Umbrüche, sprießen die Medien des neuen Zeitgeistes aus dem Boden: Im Sommer des Revolutionsjahres 1848 wird in Wien die Tageszeitung „Der Omnibus“ gegründet. Im Oktober des gleichen Jahres ist es mit diesem „Centraltagblatt für Freiheit, Aufschwung und Volksregierung“ - wie mit der Revolution - schon wieder vorbei. Gleich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen ändert der österreichische „Telegraf“ seinen Namen in „NS-Telegraf“. Die Briten wiederum lancieren am 18. September 1945 in Wien und Graz die Tageszeitung „Die Weltpresse“, die sich aus Informationen britischer Nachrichtendienste speist.
Echokammer der Zwischenkriegszeit
Jedes Regime, jede politische Agenda versucht seine Gedankenwelt an den Leser zu bringen - und an die Leserin: Zwischen dem Frauenbild des konservativen Monatsmagazins „Die Frau und Mutter“ und der äußerst aufmüpfigen, 1938 eingestellten marxistischen Wochenzeitschrift „Die Unzufriedene“ („Eine unabhängige Wochenschrift für alle Frauen“, 1923-1938) liegen Welten.
Vor allem in der Zwischenkriegszeit, in der eine Vielzahl politischer Gesinnungen miteinander konkurrierten, spiegeln solche Spartenzeitungen, die es für alle möglichen Berufsstände, Religionen und politischen Ansichten gibt, das Weltbild ihrer Leser wider. Mit der Zeitung in der Hand, so scheint es, wähnten sich die Leser in Geborgenheit: Es sind ja viele, die meine Überzeugung teilen. Dann, 1938, kam abrupt das Ende der Vielfalt. So gesehen ist das Prinzip der Echokammer nicht ganz neu, und rückblickend scheint der Rückzug in geschlossene Meinungsräume doppelt bedrohlich.
Mit der Volltextsuche kann man auch Weltbilder thematisch durchpflügen, fast, als hätte es damals schon Hashtags gegeben. Man kann sich durch die politischen Schlagworte vergangener Jahrhunderte „googlen“ und etwa testen, in welcher Zeitung der Begriff „Pazifist“ oder „Intellektueller“ als Schimpfwort verwendet wird, und in welcher im positiven Sinn. Meinung und Inhalt waren schon lange vor Facebook schwer voneinander zu trennen. Und welcher Inhalt in der Flut aktueller Nachrichten bedeutsam ist, werden auch wir vermutlich erst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später verstehen.
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