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Schnee ohne Kälte

Kinder rodeln auf Plastikpisten, Baumärkte bieten künstliche Schneedecken an, und ausrangierte Ski sollen auf einem verregneten Weihnachtsmarkt für Winterstimmung sorgen. Die Sehnsucht nach Schnee im Winter trägt fast schon kultische Züge.

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„Der durch wenige Fußgeher ausgetretene Pfad war holprig im tiefen Schnee, und es ist nicht immer leicht, nach den Fußstapfen unserer Vorderen zu wandeln, wenn diese zu lange Beine gehabt haben. Noch nicht dreihundert Schritte war ich gegangen, so lag ich im Schnee, und die Laterne, hingeschleudert, war ausgelöscht. Ich suchte mich langsam zusammen, und dann schaute ich die wunderschöne Nacht an. Anfangs war sie ganz grausam finster, allmählich hub der Schnee an, weiß zu werden und die Bäume schwarz und in der Höhe war helles Sternengefunkel.“

In seiner Erzählung „Als ich die Christtagsfreude holen ging“, beschreibt der steirische Heimatdichter Peter Rosegger, wie ihn einmal der Vater in aller Herrgottsfrühe ins Dorf schickt, um das Weihnachtsessen zu holen. Für den Waldbauernbuben eine Tageswanderung durch den tief verschneiten Wald. Von der Früh bis zum Heiligen Abend stapft der Bub voran, mit der Kraft eines entschlossenen Zwölfjährigen. Der schwitzende, hungrige, müde Körper des Kindes in der mächtigen Landschaft. Die Erzählung endet mit der Überwindung des Elements Schnee: Dem „Peterl“ gelingt es, am Christabend rechtzeitig heimzukehren, doch vor Erschöpfung schläft er noch vor der Bescherung ein.

Von der Naturgewalt zum romantischen Mythos

Damals, im 19. Jahrhundert, zumal im Gebirge, war der Winter eine Naturgewalt, der man zu begegnen hatte. Schnee war reichlich, kalt und mächtig, er erschwerte das Vorwärtskommen und bedrohte die Hütten durch Lawinen. Erst Jahrzehnte später mag Autor Rosegger seiner eigenen, unfassbar anstrengenden Wanderung bei der Niederschrift auch eine romantische Seite abgewonnen haben.

Bergpanorama in Obertauern

ORF.at/Christian Öser

Obertauern in Salzburg: Im Gebirge ist die Illusion weißer Winter noch intakt

Der knirschende, knietiefe Schnee ist heutzutage eine seltene Erfahrung geworden - vor allem für die Bewohner größerer Städte, in denen es von Haus aus wärmer ist als auf dem Land. Und fällt in der Stadt einmal Schnee, bleibt er meist nicht lange liegen. Oft handelt es sich ohnehin um feinpulverigen Industrieschnee, Ausdunstungen von Industrieanlagen, die in geringer Höhe gefrieren und weißfärbig zu Boden fallen. Wenig romantisch, wenn man sich einmal damit befasst. Aufgrund strengerer Umweltauflagen und gesunkener Schadstoffemissionen bleibt aber auch dieses Weiß zunehmend aus.

Und auch der Wintersportler muss mitunter weit reisen, um knietief im Pulverschnee zu stehen. Näher liegt da der künstliche Ersatz: So bietet zum Beispiel die Wiener Hohe-Wand-Wiese heuer erstmals eine Plastikskipiste an, die im Gegensatz zur Schneekanonenvariante auch an warmen Tagen befahrbar ist. Am häufigsten begegnet man in der Stadt dem Schnee allerdings in seiner komplett idealisierten, künstlichen Darstellung: In Schaufensterauslagen, Werbeclips oder in Kinderbüchern steht das glitzernde Weiß als Sinnbild für den idealen Winter.

Schnee ohne Kälte ist wie Fleisch ohne Fett

Betrachtet man diese idyllischen Inszenierungen, scheint es, als stiege der emotionale Wert des Schnees um so mehr, je seltener man ihm in natura begegnet. Wie ein lieb gewordener Bekannter, den man erst so richtig vermisst, wenn er tot ist: Alte Ski stehen verloren auf einem verregneten Weihnachtsmarkt, ein weiß bestäubter Holzschlitten verbringt seine Pension in der Auslage eines Schuhgeschäftes und ein Lampenhändler hat seine Vitrinen mit Glitzerwatte dekoriert.

Skulptur aus Schnee

Maya McKechneay

Watte statt Schnee als romantische Inszenierung in Geschäften

Was bewirken aber diese Schnee-Ersatzbilder beim Betrachter? „In allen Bereichen haben wir zunehmend das Ding ohne sein Wesen. Wir haben Bier ohne Alkohol, Fleisch ohne Fett, Kaffee ohne Koffein - und sogar virtuellen Sex ohne Sex“, beschreibt der slowenische Philosoph Slavoj Zizek die moderne Sicherheitsgesellschaft, die Nutzen ohne Nachteil haben will, und sei es um den Preis der Echtheit. Ein Wiener Baumarkt verkauft Schnee ohne Kälte, abgepackt in Spray- oder Mattenform: Nahtlos fügt sich dieses Produkt in Zizeks Aufzählung.

Romantische Idee als Marketingstrategie

Während Weihnachten in Zukunft immer öfter grün bleiben wird, wird die romantische Idee von weißen Weihnachten vor allem auf Konsumebene beschworen: Wenn man in einer Geschäftsauslage den Schlitten der Kindheit wiedererkennt und aus dem Augenwinkel Flocken schweben sieht, entsteht eine diffuse Sehnsucht, die sich in den daneben angebotenen Produkten wohlmöglich ein greifbares Ersatzobjekt sucht. Ähnlich operieren die vielen, idyllischen Werbespots: Die winterliche Sehnsucht zu schüren kann auch Strategie sein.

Schneit es aber einmal wirklich, rückt man dem Schnee wie Schmutz zuleibe: Die Nebenwirkung des glatten Bodens ist der Versicherungsfall, gegen den in der Stadt vorbeugend gestreut, geschabt und gesalzen wird. Vielleicht fällt ja der reine, weiße Schnee in die Kategorie des Heiligen, das laut Sigmund Freud mit dem Gefährlichen, Verbotenen, Unreinen eng verwandt ist. Zwei Seiten einer Medaille: Was Lust verursachen kann, wie die kindliche Freude beim Rodeln, wird zugleich verteufelt, schränkt es doch die Effizienz des Erwachsenenalltags ein.

Aber vielleicht ist gerade das so sympathisch am Schnee: Von Effizienz hält er wenig. In den angeblich schneesicheren Wintertourismusgegenden bleibt er in der Hochsaison gerne mal aus, um erst zurückzukehren, wenn ihn keiner mehr braucht: im April. Aus der Rosegger’schen Naturgewalt ist ein Mythos geworden, den wir umso heftiger beschwören, je divenhafter er sich uns im Alltag verweigert.

Maya McKechneay, für ORF.at

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