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100.000 Menschen eingeschlossen

Der angekündigte Abzug von Zivilisten und Rebellen aus der syrischen Stadt Aleppo ist gescheitert. Am Mittwoch brachen erneut heftige Kämpfe aus, nachdem eine vereinbarte Feuerpause zwischen Regierungstruppen und eingekesselten Rebellen zusammengebrochen war. Das meldete die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien.

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„Die Gefechte sind heftig und auch die Bombardements, es scheint, dass alles (die Feuerpause) beendet ist“, sagte der Direktor der Beobachtungsstelle, Rami Abdelrahman. Wenig später meldete die Beobachtungsstelle zudem Luftangriffe auf Aleppo. Auch nach Angaben aus Moskau nahm die syrische Armee den Kampf im Osten der Stadt wieder auf: Die syrischen Truppen hätten einen Angriff der Rebellen abgewehrt und die „Befreiungseinsätze verlängert“, erklärte die russische Armee.

Wie die russische Nachrichtenagentur TASS mit Verweis auf das russische Verteidigungsministerium meldete, hätten Rebellen versucht, die Belagerung der syrischen Truppen zu durchbrechen. Der Versuch sei zurückgeschlagen worden. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete unter Berufung auf ihren Korrespondenten, syrische Regierungstruppen und mit ihnen verbündete schiitische Milizen hätten die Waffenruhe durchbrochen. Sie hätten begonnen, den belagerten Teil mit schweren Waffen zu beschießen.

Busse kamen leer zurück

Die syrische Regierung hatte Mittwochfrüh alle Busse zurückbeordert, die zum geplanten Abzug der Rebellen und auch für Zivilisten aus dem umkämpften Ostteil Aleppos bereitstanden. Aus regierungstreuen Kreisen hieß es am Mittwoch, das signalisiere, dass die Abmachung zwischen Regierung und Rebellen zum Abzug gescheitert sein könnte. Mehrere Busse, die am Rande der von den Rebellen noch kontrollierten Gebiete in Ostaleppo gewartet hatten, seien zurückgezogen worden.

Busse warten auf Flüchtlinge in Aleppo

Reuters/Omar Sanadiki

Mittwochfrüh warteten leere Busse in Ostaleppo auf Zivilisten

„Die Verzögerungen beim Abzug der Aufständischen, ihrer Familien und anderer Zivilisten gehen auf Unstimmigkeiten zwischen den Anführern der Rebellen zurück“, hieß es aus Regierungskreisen. In den letzten von den Rebellen gehaltenen Gebieten von Ostaleppo, insbesondere im Viertel Maschhad, hatten zahlreiche Zivilisten seit der Früh auf Neuigkeiten über die Busse gewartet. Viele von ihnen hatten die Nacht unter freiem Himmel verbracht, weil sie wegen der Zerstörungen obdachlos sind. Am Dienstagabend waren bereits sechs Busse nach Salaheddin gefahren, kamen aber leer zurück.

Nach Angaben von Hilfsorganisationen sollen noch etwa 100.000 Menschen im Osten Aleppos eingeschlossen sein. Aktivisten befürchteten Vergeltungsakte, sollten die Zivilisten in die Hände von regierungstreuen Truppen geraten. Am Dienstag hatte der russische UNO-Botschafter Witali Tschurkin noch gesagt, das syrische Militär habe seine Einsätze gestoppt, um den bewaffneten Aufständischen und ihren Familien die Flucht aus der Stadt zu ermöglichen. Die Zivilisten könnten selbst entscheiden, ob sie bleiben oder ob sie in sicherere Gebiete ziehen wollten. Niemand werde den Zivilisten etwas antun, so Tschurkin in New York.

Erdogan: „Assad begeht Kriegsverbrechen“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte unterdessen ein Telefonat mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin wegen Aleppo an. Die von Russland unterstützten syrischen Regierungstruppen hätten die vereinbarte Waffenruhe verletzt, sagte Erdogan am Mittwoch. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad begehe in Ostaleppo Kriegsverbrechen.

Erdogan forderte einen Korridor, über den Zivilisten die Stadt verlassen können. Es seien Vorbereitungen getroffen worden, Menschen aus Aleppo in die syrische Stadt Idlib und in die Türkei zu bringen. Aus dem Kreml verlautete, das Gespräch zwischen Erdogan und Putin bezüglich Aleppo werde noch am Mittwoch stattfinden, meldete die russische Nachrichtenagentur RIA.

UNO: „Völliger Zusammenbruch der Menschlichkeit“

Die UNO sprach am Dienstag von einem „völligen Zusammenbruch der Menschlichkeit“ und warnte vor Rache an Tausenden Zivilisten, die in den Rebellengebieten gefangen seien. So legte die UNO Berichte vor, wonach syrische Soldaten und verbündete Milizen mindestens 82 Zivilisten während der Vorstöße ins Rebellengebiet getötet hätten.

Zerstörte Umayyad Moschee in Aleppo

APA/AFP/George Ourfalian

Die antike Umajjaden-Moschee in der Altstadt Aleppos

Truppen seien in Häuser eingedrungen und hätten auf die Menschen darin gefeuert, auch auf Frauen und Kinder. Für jene Menschen, die noch im „höllischen Viertel“ der Stadt gefangen seien, habe man „düstere Vorahnungen“, sagte der Sprecher des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville, in Genf.

Das UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF) hatte am Dienstag Informationen von einem Arzt aus Aleppo, dass viele unbegleitete Kinder in einem Gebäude, das am Dienstag unter Beschuss war, eingeschlossen seien. „Laut einem alarmierenden Bericht eines Arztes in der Stadt sind viele, vielleicht mehr als hundert, Kinder unbegleitet oder von ihren Familien getrennt eingeschlossen“, so UNICEF-Regionalchef Geert Cappelaere in einem Statement.

Karte von Aleppo

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/liveuamap.com

„Unvorstellbares Leiden“

Der katholische Pfarrer von Aleppo, Franziskanerpater Ibrahim al-Sabagh, berichtete nach Angaben von Kathpress, dass eine Rakete im Jesuitenkonvent eingeschlagen sei. „Wir danken dem Herrn, dass die Schäden in unserem Gebiet nur materieller Art sind, aber der Krieg dauerte die ganze Nacht an, und wir haben in jedem Moment seinen Lärm gehört“, so Sabagh.

Der stellvertretende Leiter von Malteser International, Sid Peruvemba, sprach von einer höchst bedrohlichen Lage und einem unvorstellbaren Leiden der Menschen. „Unsere Sorge gilt den Zivilisten in den vormals von der Opposition kontrollierten Gebieten, denen möglicherweise lebensrettende Hilfe vorenthalten wird. Hinzu kommen Berichte über willkürliche Festnahmen, massenweise Internierung oder spurloses Verschwinden von Männern“, sagte Peruvemba.

UNO gesteht Versagen ein

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon rief zu Solidarität mit den Zivilisten auf. „Wir alle haben die Menschen in Syrien bisher kollektiv hängen lassen“, sagte Ban bei einer kurzfristig einberufenen Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrats am Dienstag in New York. „Der Sicherheitsrat hat seine Hauptaufgabe in Hinblick auf den Erhalt von internationalem Frieden und Sicherheit nicht erfüllt. Die Geschichte wird uns nicht leicht freisprechen, aber dieses Versagen zwingt uns, mehr zu tun, um den Menschen in Aleppo jetzt unsere Solidarität zu zeigen“, sagte Ban. Es gebe Berichte über „bisher nie gesehene Bombardierungen“, Tötungen und Zehntausende Vertriebene.

Zerstörte Häuser in einer Straße von Aleppo

APA/AFP/George Ourfalian

Die Altstadt von Aleppo ist vollkommen zerstört

Türkei plant Zeltstadt für 80.000 Flüchtlinge

Die Türkei kündigte am Dienstagabend an, eine Zeltstadt für bis zu 80.000 Flüchtlinge aus Aleppo aufzubauen. Der stellvertretende Ministerpräsident Mehmet Simsek kündigte das Vorhaben via Twitter an, ohne allerdings Details zu nennen. Die Türkei beherbergt bereits rund 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien.

Feiern in Aleppo und Damaskus

Assads Unterstützer feierten am Dienstag den Sieg über die Rebellen. Im vom Regime kontrollierten Westteil der früheren Handelsmetropole schwenkten Menschen Nationalfahnen oder hupten lautstark. Auch in der Hauptstadt Damaskus spielten sich ähnliche Szenen ab. „Unser Präsident hat uns den Sieg über die Terroristen versprochen“, sagte ein Mann in Damaskus. „Die loyalen und patriotischen Syrer haben gewonnen.“

Zivilisten auf einer Straße in Aleppo, daneben jubelnde Regimetruppen

APA/AFP

Regimetreue Truppen jubeln in Aleppo

Vorerst keine EU-Sanktionen gegen Russland

Trotz der jüngsten Entwicklungen im Syrien-Konflikt soll auf dem EU-Gipfel auf konkrete Sanktionsdrohungen gegen Russland verzichtet werden. Im jüngsten Entwurf für die Abschlusserklärung des am Donnerstag beginnenden Treffens der Staats- und Regierungschefs wird Russland aber mit deutlichen Worten eine Mitverantwortung für Angriffe auf Zivilpersonen und Krankenhäuser in Aleppo vorgeworfen.

Von möglichen Strafmaßnahmen ist jedoch nicht die Rede. In der Erklärung zum Syrien-Konflikt, die der dpa vorliegt, wird lediglich vage dafür plädiert, eine gerichtliche Aufarbeitung anzustreben. „Diejenigen, die für Verstöße gegen das Völkerrecht, bei denen es sich zum Teil möglicherweise um Kriegsverbrechen handelt, verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden“, heißt es. Die EU ziehe „alle verfügbaren Optionen“ in Betracht.

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