Luxusgruft, Mittelalter, billig abzugeben
Die Virgilkapelle in Wien ist vieles: ein stadtarchäologischer Sensationsfund - sie wurde de facto komplett intakt 1973 mitten auf dem Stephansplatz ausgegraben - und durch ihre darauf folgende Ummantelung mit der U-Bahn-Station eine städtebauliche Kuriosität sondergleichen. Außerdem ist die Kapelle ein beeindruckend schöner Sakralbau. Eine Virgilkapelle ist sie aber eigentlich nicht.
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Das Rätsel um die Kapelle haben die vielfach - und sogar mit einem eigenen Planeten (7722 Firneis) - geehrte österreichische Astronomin Helga Firneis und der Geochemieprofessor Christian Köberl - er hat seinen eigenen Asteroiden (15963 Koeberl) - gelöst. Der Bau schien einfach keinen Sinn zu haben: Im Mittelalter eine aufwendige Kapelle ohne direkten Zugang zu bauen, noch dazu unterirdisch, sah nach einem Irrläufer unter den Sakralbauten aus - bis die Sonne den Weg zur Lösung wies.
Sogar für reiche Salzburger zu groß
Die ursprüngliche Kapelle war von Tageslicht erleuchtet: Zwölf von insgesamt 13 Metern Höhe waren auch schon damals unter der Erde, von außen war nur ein rund ein Meter hoher Bau zu sehen. Umso eigenartiger, dass sich die Kirche selbst in ihren Archiven über den Bau ausschwieg. Es gibt lediglich ein Dokument mit dem Verweis darauf, dass sich die Kapelle im Jahr 1307 schon im Privatbesitz einer gewissen Familie Chrannest befand.

APA/Georg Hochmuth
Die Kapelle ist heute als Teil des Wien Museums öffentlich zugänglich
Die Chrannests waren wohlhabende Salzburger Kaufleute, die Wien als neuen Lebensmittelpunkt gewählt hatten. Ihrer Herkunft entsprechend ließen sie nachweislich in der Kapelle einen Altar für den heiligen Virgil von Salzburg errichten. Da musste die Kapelle aber schon um die 60 Jahre alt gewesen sein - und selbst für wohlhabendste Kaufleute viel zu groß und aufwendig gestaltet, um den beabsichtigten Zweck als Familiengruft zu erfüllen.
Zeitreise voller Fallen
Es sah also alles danach aus, als habe die Kirche einen unliebsamen Bau loswerden wollen und ihn an die Chrannests verschleudert. Aber warum? Zur Lösung des Rätsels musste man in die Planungsphase der Kapelle zurück, in die Jahre zwischen 1230 und 1245. Die Zeitreise dahin, über 300 Jahre vor der gregorianischen Kalenderreform, ist voller Fallen: Das Kalenderjahr war damals nicht im Takt mit dem Naturjahr und verschob sich mit jedem Jahr mehr.
Hätte man nach heutigen Maßstäben gemessen, wäre die Kapelle genau auf den Sonnenaufgang des 22. Oktober oder des 20. Februar hin ausgerichtet gewesen, da die Sonne zweimal im Jahr gleich steht. Beides hätte aber wiederum keinen Sinn ergeben. Zum Bauzeitpunkt der Kapelle schrieb man an diesen Tagen aber den 13. Oktober beziehungsweise den 11. Februar. Das Februar-Datum half Firneis und Köberl auch nicht weiter. Für einen Bezug zum heiligen Theodor, der an diesem Tag gefeiert wird, gab es keinen Anhaltspunkt - aber beim 13. Oktober klingelte es.
Friedrich hat einen Plan
Am 13. Oktober wird bis heute der heilige Koloman gefeiert, der auf einer Pilgerreise im Jahr 1012 als vermeintlicher böhmischer Spion in Stockerau gefoltert und getötet wurde. Recht schnell bildete sich um ihn eine Heiligenlegende, und in der Bevölkerung sprach man von Wunderheilungen an seinem Grab. Das kam den Babenbergern gerade recht. Sie herrschten damals zwar als Herzöge über weite Teile des heutigen Österreich, aber sie wollten mehr. Herzog Friedrich II. ging schließlich aufs Ganze.
Gäbe es einen eigenen Nationalheiligen mit entsprechendem Kult, so Friedrichs Plan, würde sich der Papst einem eigenem Wiener Bistum nicht verweigern können, und von da hätte man es nicht weit bis zu einem eigenen Königreich. Fast hätte es geklappt. Als Friedrich aber 1246 in der Schlacht an der Leitha starb, nutzten die Bischöfe von Salzburg und Passau schnell das Machtvakuum, und brachten den Plan zum Stillstand. Und die Kapelle unter dem Stephansplatz konnte nicht zum Koloman-Mausoleum werden.
Nur der Heilige fehlt
Tatsächlich hat die Kapelle unter dem Stephansplatz alles, was ein Heiligengrab braucht - einen verdeckten Zugang, eine angeschlossene Zisterne, aus der „wundertätiges“ Wasser angeboten hätte werden können, und vor allem eben: Sonnenstrahlen, die das düstere Heiligtum genau zum Tag des heiligen Koloman in gleißendes Licht tauchen. Kolomans Überreste kamen aber eben nie nach Wien, und die Kapelle wurde durch den Verkauf offenbar bewusst aus dem Bewusstsein gerückt.
Ehrenrettung für Burgenländer
Firneis und Köberl haben aber nicht nur die Ehre der Kapelle unter dem Stephansplatz gerettet, sondern auch die anderer Kirchen in Österreich. Bei der Kirche von Unterfrauenhaid (Burgenland) bewiesen sie, dass diese vom Mittelalter an nach allen Regeln der Kunst als Marienkirche angelegt war: Sie ist exakt auf den 25. März 1450 ausgerichtet, den Tag von Mariä Verkündigung. Das ist umso bedeutender, wenn man weiß, dass im Mittelalter der Beginn eines neuen Jahres überwiegend am 25. März gefeiert wurde.
Noch spannender wird es bei der Kirchenruine von Pilgersdorf, die 1980 ebenfalls im Burgenland freigelegt wurde. Die schien überhaupt keine sinnvolle Ausrichtung zu haben. Firneis und Köberl rechneten den Kirchenbau jedoch im wahrsten Sinn des Wortes von den Grundmauern bis zu seiner mutmaßlichen früheren Höhe hoch und fanden heraus: Weil der Osthorizont in der Gegend bewaldet ist und sich einfach kein schöner Sonnenaufgang ausgeht, waren die Kirchenbauer im Burgenland pragmatisch - und planten die Kirche so, dass sie die Sonne eben bei ihrem Untergang erleuchtete, und zwar wiederum genau am 25. März.
Lukas Zimmer, ORF.at
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