Als „Empörung“ getarnte Raubzüge
Zum 78. Mal jähren sich die November-Pogrome von 1938 gegen die jüdische Bevölkerung. Heute oft immer noch mit dem verharmlosenden Wort „Reichskristallnacht“ bezeichnet, waren sie mit Hunderten Toten der Wasserscheidemoment, in dem aus der Diskriminierung von Juden die komplette Entrechtung und tödliche Verfolgung wurde. Entsprechend sorgfältig war die Nacht vom 9. auf den 10. November geplant.
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Belegtermaßen hatten die Nazis seit 1936 auf eine beliebige Gelegenheit für die Inszenierung von „Volkszorn“ und „spontanen (...) judenfeindlichen Kundgebungen“ gewartet. In jenem Jahr verhinderte das nur die Abhaltung der Olympischen Spiele in Deutschland und die Selbstdarstellung als friedliches „Kraft durch Freude“-Land. Zwei Jahre später konnte die Nazis niemand mehr aufhalten. Und vor allem in Österreich wollte auch fast niemand.
Warnungen schon ab Jahresbeginn
Das Pariser Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst Eduard vom Rath am 7. November war die von den Nazis gesuchte Gelegenheit. Bezeichnend deren erste Reaktion auf die Schüsse: Vom Rath wurde sofort dreifach befördert und so offiziell zum Spitzendiplomaten: Aus dem Legationssekretär - so heißen Diplomatenlehrlinge - war ein Gesandtschaftsrat Erster Klasse geworden.

Deutsches Bundesarchiv/Friedrich Franz Bauer (Bild 152-64-40) unter cc-by-sa
Zwangsarbeiter beim Bau des KZ Dachau im Juni 1938, fünf Monate vor den November-Pogromen
Organisiert war der Terror gegen die jüdische Bevölkerung da schon lange: Schon ab Jahresbeginn 1938 gab es dokumentierte Warnungen vor unmittelbar bevorstehenden Pogromen. Im Februar wurden Kultusgemeinden zu Vereinen umgewandelt, womit etwa deren Gebäude nicht mehr von den Behörden zu schützen waren, und ab Sommer waren Betriebe mit jüdischen Eigentümern nach außen hin als solche kenntlich zu machen: Die „Vorarbeit“ dafür, dass sie am 9. November abgebrannt werden konnten.
Nur der Wiener Stadttempel blieb erhalten
In Österreich wurden in der Nacht auf den 10. November 30 Juden getötet, 7.800 verhaftet und aus Wien rund 4.000 sofort ins Konzentrationslager Dachau deportiert. 24 der 25 Wiener Synagogen und mindestens 18 weitere Beträume wurden in dieser Nacht zerstört, einzig der Stadttempel verdankte dem Zufall der engen Verbauung an dieser Stelle der Wiener Innenstadt und der damit einhergehenden Gefahr eines Großbrandes seine Erhaltung.
In Österreich kam es auch in den Bundesländern zu zahlreichen Übergriffen. Die Synagogen in Eisenstadt, Berndorf, Vöslau, Baden, Klagenfurt, Linz und Graz fielen dem Pogrom zum Opfer. In Baden wurden alle Juden verhaftet, in St. Pölten 137, in ganz Salzburg 70, in Klagenfurt 40. Ein Zehntel der rund 650 bis dahin in Oberösterreich lebenden Juden wurde bereits am 8. November festgenommen.
Propaganda und Wahrheit
Im gesamten „Deutschen Reich“ wurden Tausende Synagogen und Geschäfte niedergebrannt, 91 Personen getötet, 20.000 verhaftet. Das ist jedoch nur die Opferbilanz der ersten Nacht. Der organisierte Teil der Pogrome dauerte bis zum 13. November. Am Ende waren 400 Menschen tot und 30.000 für den Transport in Konzentrationslager bestimmt. Eine unbestimmte Anzahl von Menschen sah den einzigen Ausweg im Freitod.

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Zerstörte Synagoge in Wien
Auch die österreichischen Medien druckten nach der Pogromnacht lediglich den Propagandaerlass ab, wonach „die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes“ enden solle, weil das Regime „dem Judentum die endgültige Antwort erteilen“ werde. Das deutschsprachige „Prager Tagblatt“ war damals aber in Österreich erhältlich und berichtete zutreffend, dass sich die Ereignisse der Nacht „mit gleichgerichteten Unternehmungen irgendeines Vorjahres nicht mehr verglichen werden“ könnten.
In Gier vereint
Es brauchte aber nicht einmal das „Prager Tagblatt“: Auch wenn die SA- und SS-Leute, die die Synagogen und Geschäfte anzündeten, auf Befehl Zivilkleidung trugen - man kannte sie. Die Menge sah in den meisten Fällen unbeteiligt zu. Fast nur in Österreich - und in Wien sogar mehr, als dem Regime zusagte - beteiligten sich Zivilisten aktiv an Verfolgungen. Neben Antisemitismus war dabei vor allem Gier die Triebkraft: 1.950 Wohnungen wurden allein in Wien während des November-Pogroms zwangsgeräumt.

APA/Herbert Pfarrhofer
Eine Visualisierung des früheren Leopoldstädter Tempels
Gier war auch das Motiv des Regimes. Seit Anbeginn war der NS-Antisemitismus vor allem als Vehikel für Raub und Diebstahl gedacht, vom privaten „Ariseur“ bis hin zum Staatshaushalt. Die im Propagandaerlass angekündigte „Antwort“ der Nazis bestand aus der Aneignung jüdischen Vermögens - bis hin zu den Zahlungen von Versicherungen für die Zerstörungen - sowie einer „Sühneabgabe“ von 1,25 Milliarden Reichsmark (entspricht heutigen 8,9 Mrd. Euro), die die Basisfinanzierung für den Zweiten Weltkrieg wurde.
Vom „Volkszorn“ zum industriellen Massenmord
Die Passivität der Bevölkerung und noch mehr die aktive Beteiligung in Österreich überraschte sogar die Nazis selbst - und daran vor allem, dass selbst jene mittaten, die sich gar nicht selbst bereichern konnten. Das Ausland ließ es vor allem bei diplomatischen Protestnoten bewenden. Drei Jahre später war aus dem erfundenen „Volkszorn“ der industrielle Massenmord an Juden, Roma, Sinti, Homosexuellen, „Asozialen“, Regimegegnern und anderen geworden.
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