Wie willkommen Ungarn-Flüchtlinge waren
Oktober 1956: Das Datum ist verknüpft mit Erinnerungen an eine einschneidende nationale Bewährungsprobe der Zweiten Republik, die mythenbildend geworden ist. Der Mythos erzählt von einem kleinen, neutralen Land zwischen den Machtblöcken, das politisch verfolgte Nachbarn mit offenen Armen, Elan, Menschlichkeit und aufopfernder Hilfsbereitschaft empfing.
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Geschehen ist das alles nur ein Jahr nachdem die letzten Besatzungssoldaten Österreich verlassen hatten und wenige Wochen nachdem die ersten Präsenzdiener eingerückt waren. Keiner konnte damals nach nur zwei Wochen Ausbildung mit dem Gewehr umgehen, gab ein Rekrut laut einem „profil“-Bericht aus dem Jahr 2006 zu Protokoll. Österreich musste seine erst junge Eigenständigkeit und Neutralität unter Beweis stellen. Und es zementierte sein Selbstverständnis als Asylland.

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Allein über die Brücke von Andau im Burgenland kamen rund 70.000 Flüchtlinge über die Grenze. Die heutige Brücke wurde erst in den 1990er Jahren errichtet. Sie ist ein beliebtes Ausflugsziel geworden.
Am 23. Oktober hatte in Ungarn der Volksaufstand gegen den Kommunismus seinen Ausgang genommen. Er wurde am 4. November blutig niedergeschlagen. Rund 200.000 Ungarinnen und Ungarn ergriffen die Flucht. Die allermeisten - rund 180.000 bis 194.000 Menschen - überquerten die Grenze zu Österreich und stießen hier zunächst auf viele freiwillige Helfer, die die Menschen herzlich in Empfang nahmen, einquartierten und versorgten. Es soll mehrfach auch zu aktiver Flüchtlingshilfe gekommen sein. Die Flüchtlinge wurden oft auf Pferdewagen und Traktoren mitgenommen. Bauern sollen Grenzsoldaten verscheucht haben.
„Moderne Katastrophenplanung“
Bereits am 26. Oktober 1956 verfügte der sozialdemokratische Innenminister Oskar Helmer, dass alle Ungarn-Flüchtlinge ausnahmslos Asyl erhalten sollten. Ende Oktober konstituierte sich unter dem Vorsitz von Erzbischof Franz König das österreichische Nationalkomitee für Ungarn. Es handelte sich um eine „sehr moderne Katastrophenplanung“, sagt der Historiker Peter Haslinger vom deutschen Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg im ORF.at-Interview.
Einerseits sei die Hilfe gut organisiert gewesen, so habe etwa die Caritas zahlreiche Privatunterkünfte für die Geflüchteten aufgestellt, so Haslinger. Allerdings sei es aufgrund der hohen Zahl der Flüchtlinge spätestens Ende November 1956 zu einer Überforderung gekommen. Die Kapazitäten seien erschöpft gewesen.
Geburtsstunde von Traiskirchen
Nach der Erstversorgung wurde die meisten Flüchtlinge in eiligst adaptierten provisorischen Lagern untergebracht. Weit über 200 Lager wurden errichtet, oft waren es von den Sowjets verlassene Kasernen, die in keinem guten Zustand waren. Es war auch die Geburtsstunde des Erstaufnahmezentrums Traiskirchen - eine ehemalige k. u. k. Artilleriekadettenschule.

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Ungarn-Flüchtlinge in Traiskirchen, 6. November 1956. Rund 5.000 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt im Lager untergebracht.
Tausende Flüchtlinge täglich
Bis 4. November kamen vorerst nur einige Tausend nach Österreich. Das änderte sich mit der Niederschlagung des Aufstands durch sowjetische Truppen und Truppen des Warschauer Paktes dramatisch. In Spitzenzeiten Mitte November kamen einige Tausend - nun allerdings täglich - über die burgenländische Grenze, 70.000 allein über die berühmt gewordene Brücke von Andau.
Möglich wurde diese Flüchtlingsbewegung, weil die Ungarn in der Entspannungsphase vor Ausbruch des Aufstandes den 1949 errichteten Stacheldrahtzaun an der Grenze beseitigt und Hunderttausende Minen entschärft hatten. Im Jänner 1957 wurde die ungarisch-österreichische Grenze dann offiziell wieder abgesperrt. Die Wiedererrichtung der technischen Grenzsperren - Stacheldraht und Minenfelder - wurde im Februar 1957 abgeschlossen.
Positive Grundstimmung bröckelte
Großzügigkeit, Spendenfreudigkeit, Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft in der österreichischen Bevölkerung in den ersten Wochen - all das ist belegt und verbrieft. Über Medien und Lautsprecher wurde die Bevölkerung zu Geld- und Sachspenden aufgefordert. Der Andrang zu den Sammelstellen war sehr groß, die Spenden türmten sich, geht aus diversen Berichten hervor.
Die Sympathie für die Geflüchteten sowohl vonseiten der Regierung als auch der Bevölkerung sei groß gewesen, bestätigte Haslinger. Das von der Hilfsbereitschaft geprägte Geschichtsbild bestehe zu Recht. Weniger bekannt dürfte allerdings sein, dass die anfänglich positive Grundhaltung im Laufe der Wochen recht rasch umschwang. Ab Mitte November sei es zu einer „institutionellen Überforderungsreaktion“ gekommen, so Haslinger.
Franz Jonas: „Ich höre nur noch Beschwerden“
Der Historiker untersuchte die Ministerratsprotokolle jener Zeit und stieß auf interne Äußerungen, die von Sorgen, Vorsicht und Krisenstimmung getragen waren. Medienanalysen aus den entsprechenden Monaten zeigen überdies deutlich, wie sich die anfänglich euphorische Berichterstattung langsam umwandelte, bis sie sich – so die These der Historikerin Brigitte Zierer – in eine mehr oder weniger offene Feindseligkeit verkehrte. „Im Jänner kippte die Stimmung in den Medien“, bestätigt Haslinger.

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Warten auf die Weiterreise in einem Flüchtlingslager in Wiener Neustadt, 3. Dezember 1956
Bereits Ende November 1956 seien erste Einbrüche hinsichtlich der Akzeptanz ungarischer Flüchtlinge erkennbar gewesen, schreibt der Historiker Bela Rasky vom Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien. Es sei zu ersten Klagen über die hohen Kosten der Flüchtlingsbetreuung gekommen. Das anfänglich übermäßig positiv dargestellte Image der ungarischen Flüchtlinge als heldenhafte Freiheitskämpfer begann sich zu verschlechtern.
In Zeitungskommentaren war von „Parasiten“ zu lesen. Wer nicht zerlumpt und abgemagert sei, kann kein Hilfsbedürftiger sein, lautete ein weiteres Argument, das sich bald in den Medien wiederfand. „Ich höre nur noch Beschwerden darüber, dass die ungarischen Flüchtlinge gratis Straßenbahn fahren“, sagte der Wiener Bürgermeister Franz Jonas im Jänner 1957.
Studie: Erwartetes Verhalten hilfloser Kinder
Offenbar war die Hilfsbereitschaft häufig an bestimmte Erwartungen gekoppelt - was das Verhalten der Flüchtlinge betraf. Zu diesem Schluss kamen der Psychiater Hans Hoff und der Psychologe Hans Strotzka, die mit einer Studie über die Ungarn-Flüchtlinge beauftragt wurden, die 1959 erschien. Wenn Flüchtlinge eigenständiges Verhalten an den Tag legten, führte das zu Irritationen, lautete das Fazit der Studie.
Die Unterstützung und emotionale Zuwendung hielt demnach nur so lange an, als die Flüchtlinge das Verhalten hilfloser Kinder an den Tag legten. „Wenn das nicht der Fall ist, wenn Flüchtlinge im gleichen Espresso verkehren, im gleichen Geschäft u. U. einmal etwas Besonderes kaufen, spontan in anderer Weise handeln, als es dieser Rollenerwartung entspricht, so entsteht eine fast gesetzmäßige Aggression“, heißt es darin etwa.
Julius Raab: „Nicht die Wohltäter für die ganze Welt“
Als Ende 1957 noch das Problem auftauchte, dass Flüchtlinge, die bereits in einem Drittland angekommen waren, wieder nach Österreich zurückkehren wollten, sagte ÖVP-Bundeskanzler Julius Raab im Ministerrat: „Unsere Leute werden ja schon ganz wild wegen der ganzen Flüchtlingsgeschichte. Wir können nicht die Wohltäter für die ganze Welt spielen. (...) Wir können da keine Konzessionen machen, sonst bekommen wir die ganze Gesellschaft wieder zurück.“

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ÖVP-Kanzler Julius Raab: „Unsere Leute werden ja schon ganz wild“
Es habe eine „Solidaritätsfrustration“ gegeben, sagt Haslinger. Ein abgestimmtes internationales Verteilungssystem gab es nicht. Der damalige Staatssekretär Bruno Kreisky äußerte am 13. November 1956 im Ministerrat die Befürchtung, dass Österreich keine finanzielle Unterstützung für die Flüchtlingsbetreuung erhalten werde. Sie kam dann zwar doch, aber in sehr unterschiedlichem Maß. Vor allem die Schweiz und Schweden leisteten laut Haslinger unbürokratische Hilfe, auch Großbritannien und Deutschland beteiligten sich, aber in geringerem Ausmaß.
Von den Mittelmeer-Ländern sei hingegen kaum etwas gekommen. Die USA und Kanada wiederum suchten sich aus, wer einwandern durfte. Der Weitertransport habe sich in vielen Fällen sehr gezogen, so Haslinger. In Österreich habe Sorge bestanden, mit den „Problemfällen“ allein gelassen zu werden. Anlass zur Sorge seien damals auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gewesen, die teils verhaltensauffällig geworden seien. Ein Aspekt, den auch Rasky nennt, der demnach aber noch wenig untersucht ist. So wie überhaupt die „nicht gelungenen Geschichten nicht erforscht“ seien.
Nur jeder Zehnte ist geblieben
In erster Linie blieb Österreich jedenfalls Transitland. Am Ende blieb nur etwa jeder zehnte Ungarn-Flüchtling in Österreich. Die Zahlen divergieren leicht. Laut UNHCR gingen 84.000 Ungarn-Flüchtlinge innerhalb der ersten acht Wochen weiter in „Neuansiedlungsländer“. Die USA und Kanada nahmen den Großteil von ihnen auf. Ende 1958 lebten noch etwa 25.000 bis 30.000 Ungarn in Österreich, allerdings einschließlich vor dem Herbst 1956 Geflüchteter. Unterschiedlichen Angaben zufolge blieben rund 15.000 bis 18.000 (laut UNHCR) oder 21.000 Ungarinnen und Ungarn langfristig in Österreich.
„Die Erinnerung wurde eine andere“
Es gebe „zwei Versionen einer Geschichte“, sagt Rasky, selbst Sohn einer ungarischen Flüchtlingsfamilie: die, die man den Österreichern mitteilt, und die, die man sich untereinander erzählt. Es sei zwar der gleiche Plot, doch unterscheidet er sich in den Nuancen. Denn natürlich seien auch negative Erfahrungen gemacht worden, so Rasky im ORF.at-Interview. Er erzählt etwa vom schlechten Gewissen, das ein Flüchtling bekam, wenn er sich einen Einspänner im Kaffeehaus gönnte.
„Eine Tragödie in Ungarn wurde eine Erfolgsgeschichte für Österreich“, resümiert der Historiker. Das Narrativ der österreichischen Perspektive sei dabei so stark, dass es auch von Ungarn-Flüchtlingen übernommen worden sei. Ihre Integration sei gelungen, aber die Integrationsleistung der Ungarn-Flüchtlinge selbst dabei leider in den Hintergrund, ja sogar in Vergessenheit geraten: das Leid, die Schwierigkeiten, die Demütigungen, die die Menschen auch erlitten haben. „Die Erinnerung wurde eine andere.“
Doris Manola, ORF.at
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