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„Wilder als Caravaggio“

Lange hat es gedauert, bevor Kunsthistoriker sie in den Kreis der Größen der Barockmalerei aufgenommen haben – dabei hat sie Werke geschaffen, die jenen von Rembrandt oder Michelangelo Merisi da Caravaggio um nichts nachstehen: Artemisia Gentileschi (1593 – 1654) war bereits zu Lebzeiten ein Star. Bei zwei aktuellen Barockschauen in Großbritannien und Deutschland sind nun zahlreiche Bilder Gentileschis zu sehen, die ihr Können zeigen.

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Zugleich zeugen sie davon, wie hart es für sie gewesen sein muss, sich in der von Männern dominierten Kunstwelt des 17. Jahrhunderts durchzusetzen. Gentileschi wurde am 8. Juli 1593 in eine römische Künstlerfamilie hineingeboren. Ihr Vater Orazio war ebenfalls Maler, seine „Büßende Maria Magdalena“ ist in der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien zu sehen.

Der Vater scheint das Talent seiner Tochter früh erkannt zu haben. Bereits im Alter von fünf Jahren soll sie in seinem Atelier mitgeholfen, Farben gemischt und Leinwände vorbereitet haben. Manche Quellen berichten zudem, der Vater habe Artemisia schon in jungen Jahren gezwungen, nackt für andere Maler Modell zu stehen. In der Malerwerkstatt lernte die junge Artemisia auch einen engen Freund Orazios kennen, dessen Stil sie sich in weiterer Folge verschrieb: Caravaggio.

Der gierige Blick der alten Männer

Wie ausgeprägt Gentileschis künstlerische Fähigkeiten schon im Teenageralter waren, zeigt ihr 1610 entstandenes Bild „Susanna und die Ältesten“. In dem Gemälde, das wie viele Barockwerke das Motiv einer biblischen Erzählung aufgreift, verarbeitet die damals 17-Jährige auch den Sexismus der Gesellschaft im Rom des 17. Jahrhunderts. Zwei alte Männer stieren unverhohlen ein spärlich bekleidetes Mädchen an, das sich angewidert abwendet und versucht, die Gaffer mit ihren Händen wegzuschieben.

Zwei Jahre später stand die Malerin im Zentrum eines aufsehenerregenden Prozesses. Orazio Gentileschi hatte den berühmten Agostino Tassi als Lehrer seiner Tochter engagiert. Der mittlerweile in Vergessenheit geratene Maler vergewaltigte seine Schülerin. Gentileschi behielt die Sache zunächst für sich, da Tassi versprochen hatte, sie zu heiraten. Als er sein Versprechen brach, strengte ihr Vater einen Prozess gegen den Künstler an.

„Es ist wahr, es ist wahr!“

Die Verhandlung erstreckte sich über sieben Monate und lief unter Bedingungen ab, die heutzutage nur noch schwer vorstellbar sind. So ordnete das Gericht die Aussage Gentileschis unter Folter an. Im Gerichtssaal wurden Seile um ihre Finger geschlungen und zugezogen. Gentileschi - so zeigen es die Prozessunterlagen, die erhalten geblieben sind - verteidigte sich dennoch mit allen ihr möglichen Mitteln. „Es ist wahr, es ist wahr, es ist wahr!“, schrie sie während ihrer Inquisition.

Gentileschis "Selbstbildnis als Lautenspielerin", um 1615-17

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Gentileschis „Selbstbildnis als Lautenspielerin“, entstanden zwischen 1615 und 1617

Die Übergriffe Tassis schilderte die junge Malerin dem Richter in aller Deutlichkeit. Er habe sich in ihr Zimmer geschlichen und ihr Sex angeboten, (...) „er hat mich auf die Bettkante geworfen, eine meiner Brüste mit seiner Hand gequetscht und sein Knie zwischen meine Beine gedrückt, damit ich sie nicht schließen konnte“, sagte sie vor Gericht. Sie habe ihn gekratzt, an den Haaren gerissen und „seinen Penis so fest gepackt, dass sich ein Stück Fleisch ablöste“, berichtete sie.

Tassi bestritt die Vergewaltigung bis zuletzt. Das Verfahren beschädigte nicht nur den Ruf Gentileschis. Zahlreiche Zeugen sagten aus, Tassi habe seine Frau ermordet. Zudem wurde ruchbar, dass Tassi versucht hatte, Gemälde von Orazio Gentileschi zu stehlen. Das Gericht sprach Tassi letztlich schuldig. Seine Strafe musste er aufgrund seiner guten Kontakte zum damaligen Papst Innozenz X. nie antreten.

Auf dem Weg zum Ruhm

Die Prozessunterlagen zeigen auch, dass Gentileschi kaum lesen und schreiben konnte. Dafür verbrachte sie jede freie Minute damit, ihre Fertigkeiten auf der Leinwand zu verbessern. Kurz nach Prozessende heiratete Gentileschi Pierantonio Stiattesi, einen Maler, dem sie in seine Heimatstadt Florenz folgte. In der Toskana-Metropole angekommen, lernte sie lesen und schreiben - und wurde 1616 als erste Frau überhaupt auf der renommierten und bis heute bestehenden Accademia di Belle Arti aufgenommen.

In den folgenden Jahren erreichte Gentileschis Karriere einen neuen Höhepunkt. Großherzogin Christine von Lothringen und Cosimo II. de Medici zählten zu ihren Auftraggebern, privat verkehrten sie und ihr weniger erfolgreicher Künstlergatte unter anderem mit dem bekannten Astronomen Galileo Galilei. In dieser Zeit entstand „Judith und Holofernes“, eines der berühmtesten Bilder Gentileschis, das in den Uffizien in Florenz zu sehen ist. Von dem Bild gibt es auch eine jüngere Version, gemalt 1612.

Gentileschis "Judith enthauptet Holofernes", um 1612

Public Domain

„Judith und Holofernes“ - Gentileschis blutiges Meisterwerk aus dem Jahr 1620

Nach Meinung einiger Kunsthistoriker verarbeitete Gentileschis die Vergewaltigung durch Tassi in den beiden Bildern. Die Geschichte stammt ursprünglich aus dem Alten Testament. Judith verführt den General Holofernes, dessen Truppen ihr Dorf belagern, macht ihn betrunken und schneidet ihm den Kopf ab. Hilfe erhält sie dabei von einer Dienerin, die den überrumpelten General niederdrückt.

Flucht aus Florenz

Das erfolgreiche Gastspiel in Florenz endete nach sechs Jahren. Des Diebstahls bezichtigt und schwer verschuldet musste das Paar aus der Stadt flüchten. Von den vier gemeinsamen Kindern hatte nur eine Tochter überlebt, alle anderen waren bereits in jungen Jahren an Krankheiten gestorben.

Gentileschis "Judith mit ihrer Magd", um 1612-14

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„Judith mit ihrer Magd“ (entstanden zwischen 1612 und 1614) zeigt die Szene nach der Enthauptung des Holofernes. Der Kopf des Generals liegt im Korb.

Zurück in Rom erweckte Gentileschi ihre Karriere abermals zum Leben. Aufträge für Fresken oder Altarbilder blieben ihr als Frau zwar verwehrt; dafür stieg sie zur begehrten Porträtmalerin auf, vor allem für reiche Geschäftsleute, die ihre Töchter auf Leinwand verewigt haben wollten, aber den lüsternen männlichen Malern misstrauten.

Im Laufe ihres Lebens wechselte sie mehrmals ihren Wohnort, lebte unter anderem in Paris und in Venedig. In Neapel eröffnete sie ein Atelier mit mehreren Angestellten - was in der damaligen Zeit für eine Malerin höchst ungewöhnlich war. Ende der 1630er Jahre verschlug es sie nach England, wo es zum Wiedersehen mit ihrem Vater kam. In dieser Phase ihrer Karriere war Gentileschi in ganz Europa ein Star der Malerei, unter ihren Auftraggebern waren die Königshäuser von Frankreich und Spanien. Nach ihrem Aufenthalt in England kehrte Gentileschi nach Neapel zurück, wo sie 1654 im Alter von knapp 60 Jahren starb.

Starke Frauenfiguren

Gentileschi wird zu den „Caravaggisti“ gezählt, die ihren Stil an jenem des Vorreiters der Barockmalerei orientierten. Ebenso wie Caravaggio beherrschte sie die Hell-dunkel-Technik (Chiaroscuro) in meisterhafter Manier. Neben Chiaroscuro meisterte sie aber noch eine ganze Reihe anderer Stilarten, was sie wirtschaftlich erfolgreich werden ließ.

Ausstellungshinweise

  • „Beyond Caravaggio“, bis 15. Jänner 2017, National Gallery London, täglich 10.00 bis 18.00 Uhr, freitags 10.00 bis 21.00 Uhr.
  • „Caravaggios Erben – Barock in Neapel“, bis 12. Februar 2017, Museum Wiesbaden, Mittwoch bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Dienstag und Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.

„Sie besaß die Fähigkeit, sich zum Beispiel in Florenz perfekt in die dortige Kunstszene zu integrieren. Sie ließ sich dort von Ludovico Cigoli und anderen Malern beeinflussen, passte sich ihnen an, dabei aber nie die malerischen Erfahrungen aus den Augen verlierend, die sie in Rom gemacht hatte“, sagte die italienische Kunsthistorikerin Patrizia Craveri dem Deutschlandradio Kultur.

Der „Guardian“ bezeichnete Gentileschi anlässlich der Eröffnung der Schau „Beyond Caravaggio“ als „wilder als Caravaggio“. Bei der Wahl ihrer Motive fällt auf, dass Gentileschi auf ihren berühmtesten Bildern stets starke Frauenfiguren ins Zentrum rückt - neben Judith etwa die Heilige Katharina von Alexandrien, Jael, Kleopatra, Salome, Esther. Trotz ihres Könnens wurde Gentileschi lange von Kulturhistorikern ignoriert - einem Mann ihres Kalibers wäre nie so ein Unrecht widerfahren, kritisierte die Historikerin und Gentileschi-Expertin Mary D. Garrard einmal.

Philip Pfleger, ORF.at

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