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„Ovid mit Blues, Shakespeare mit Gospel“

Die Schwedische Akademie hat mit ihrer Entscheidung, den Nobelpreis für Literatur heuer an Bob Dylan zu vergeben, für Zustimmung und Kritik gesorgt. Der 75 Jahre alte Singer-Songwriter ist der erste Musiker, der die wichtigste Auszeichnung der Literaturwelt erhält - was der Jury teilweise heftige Kritik einbringt.

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Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler, früher Teil des „Literarischen Quartetts“, sprach von einer „fantastischen Fehlentscheidung“. Löffler sagte dem MDR, sie habe den Eindruck, dass die Akademie sich seit einiger Zeit interessant machen wolle, „und zwar durch besonders ausgefallene und extravagante Namen, die sie da kürt“.

Das sei schon im vergangenen Jahr mit der Auszeichnung für die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch der Fall gewesen - „eine sehr mutige und verdienstvolle Journalistin, aber das waren Protokolle, journalistische Montagen“. Dylan sei zweifellos ein genialer Folk- und Rockmusiker und habe der Rockmusik eine neue sprachliche Komplexität gegeben, „aber bitte, das ist alles 50 Jahre her“, sagte Löffler. Er habe rätselhafte, dunkle und sehr komplexe, symbolistische Texte geschrieben, diese seien aber keine eigenständige Lyrik, denn sie funktionierten nur gesungen.

„Aus der Prostata herausgerissen“

Wesentlich harscher fiel die Kritik des schottischen Autors Irvine Welsh („Trainspotting“) aus, der sich auf dem Kurznachrichtenportal Twitter in deftigen Wortbildern über die Jury beschwerte: „Ich bin Dylan-Fan, aber das ist ein falsch verstandener Nostalgie-Award, herausgerissen aus der ranzigen Prostata von senilen, sabbernden Hippies“, schrieb Welsh, was in der Twitter-Community heftige Kontroversen nach sich zog.

Bob Dylan 1965

AP

Bob Dylan im Jahr 1965

Gewählter drückte der deutsche Literaturkritiker und Fernsehmoderator Denis Scheck seine Kritik aus. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Dylan sei ein „Witz“, sagte Scheck. „Gelegentlich erlaubt sich die Akademie ein ‚Späßchen‘“, sagte der ARD-Moderator („Druckfrisch“) der dpa. „Die Auszeichnung von Bob Dylan ist genauso ein Witz, wie es die von Dario Fo war. Am besten, man lacht mit.“

Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu beklagte in einem Facebook-Eintrag, dass kein Autor mit dem Preis bedacht wurde: „Niemand bestreitet, dass er ein genialer Musiker und ein großer Dichter ist, ich selbst habe ihn übersetzt (...) Aber es tut mir so leid um die wahren Schriftsteller, Adonis, Ngugi (wa Thiong’o), (Don) DeLillo und weitere 2-3, die den Preis beinahe in der Tasche hatten.“

„Der größte lebende Dichter“

Die Mitglieder der Schwedischen Akademie verteidigten ihre Entscheidung naturgemäß: Dylan habe „neue poetische Ausdrucksformen in der amerikanischen Liederkultur“ geschaffen, begründete die Jury ihr Urteil. „Sein Einfluss auf die zeitgenössische Musik ist nachhaltig, und er ist das Objekt eines ständig wachsenden Stroms von Sekundärliteratur“, schrieb die Akademie in ihren biografischen Angaben. „Er ist der wahrscheinlich größte lebende Dichter“, sagte der schwedische Schriftsteller Per Wästberg.

Die Zuerkennung des Preises dürfte für Dylan eine genauso große Überraschung gewesen sein wie für alle anderen. Die Jury habe vor der Verkündung Donnerstagmittag nicht mit ihm gesprochen, sagte die Vorsitzende der Schwedischen Akademie, Sara Danius, nach der Bekanntgabe. Sie wollte ihn aber so schnell wie möglich anrufen. „Ich glaube, ich habe eine gute Nachricht.“ „Dylan schreibt Poesie für das Ohr“, sagte die Literaturwissenschaftlerin später der Nachrichtenagentur AP.

Rushdie: „Großartige Wahl“

Würdigungen gab es auch von Literaten und Politikern. „Von Orpheus bis Faiz, Songs und Poesie waren immer eng miteinander verbunden. Dylan ist ein brillanter Erbe dieser bardischen Tradition. Großartige Wahl“, schrieb der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie auf Twitter.

Die US-Literatin Joyce Carol Oates („Black Water“) untermauerte ihre Freude über Dylans Auszeichnung mit einem Zitat aus dem Dylan-Song „Mr. Tambourine Man“: „Yes, to dance beneath the diamond sky with one hand waving free“ - allein für dieses Zitat habe er den Nobelpreis verdient.

Unter den ersten Gratulanten war Chiles Präsidentin Michelle Bachelet: „Was für eine Freude, dass Dylan den Nobel erhält. Viele liebevolle Erinnerungen meines Erwachsenwerdens sind mit seiner Musik assoziiert“, twitterte die Politikerin. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz schrieb: „Eine willkommene Überraschung. Der Nobelpreis für Bob Dylan feiert einen poetischen und engagierten Beitrag zu Musik und Literatur im letzten halben Jahrhundert.“

Dylan „braucht den Preis nicht“

Der deutsche Dylan-Biograf Heinrich Detering sagte: „Dylan hat wie kein anderer die moderne amerikanische Musiktradition mit der literarischen Hochkultur zu einer neuen Kunstform vereint - Ovid mit Blues, Shakespeare mit Gospel.“ Der Nobelpreis komme auch „zu einem sehr richtigen Zeitpunkt, weil es scheint, als hätte Dylan sein facettenreiches Werk im Wesentlichen abgeschlossen“, sagte Detering.

Für den Wiener Kulturwissenschaftler Eugen Banauch zeigt die Vergabe des Literaturnobelpreises an Dylan, dass die Verbindung von Lyrik, Musik und Performance im Songwriting endgültig im Literaturbetrieb angekommen ist. Klar sei jedoch: „Dylan braucht den Nobelpreis nicht“, so Banauch.

Bob Dylan

AP/David Vincent

Dylan im Jahr 2012 bei einem Auftritt in Frankreich - seit zwei Jahrzehnten galt er als Geheimfavorit für den Nobelpreis für Literatur

Dass umgekehrt der Nobelpreis Bob Dylan als Aushängeschild brauche, gehe zwar ebenfalls zu weit. „Es kann aber gut sein, dass die literaturinteressierte Öffentlichkeit jemanden wie Dylan als Nobelpreisträger gut brauchen kann“, so der Wissenschaftler vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien - mehr dazu in oesterreich.ORF.at. „Dylans Kanonisierung im Literaturbetrieb war in der Praxis auch ohne Nobelpreis eh nicht zu verhindern“, schrieb der FM4-Journalist Martin Blumenau, „die Beschäftigung mit dem größten Songpoeten aller Zeiten bekommt so im Nachhinein halt ein akademisches Hakerl. Danke, Herr Lehrer“ - mehr dazu in fm4.ORF.at.

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