Politexperimente erlaubt
Der jüngste Erfolgszug der Piratenpartei ist nur der letzte Beweis, dass die Isländer Politexperimenten nicht abgeneigt sind. Mit Jon Gnarr hatte die Hauptstadt Reykjavik bereits einen Punk und Komiker zum Bürgermeister. Und zum amtierenden Präsidenten wählten die Isländer einen Historiker, den das Land aus dem Fernsehen kennt.
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Comedian, Taxifahrer, Autor, Bassist einer Punkband, zudem der erste feste Freund der Piratenpolitikerin Birgitta Jonsdottir: Bevor Gnarr mit seiner Besten Partei zum Bürgermeister von Reykjavik gewählt wurde, hatte er bereits einiges hinter sich. In der Jugend ein Punk ohne Abschluss, wandte er sich dem Anarchismus und der Comedy zu. „Es hat mich traurig gemacht, dass ich in einem Land aufgewachsen bin, in dem es so viel Selbstsucht und Gier gab. Dagegen habe ich protestiert“, erzählte Gnarr vergangenes Jahr bei einem Pressegespräch im Aktionsradius Wien.
Offene Korruption als Wahlversprechen
Dieser Protest führte auch zur Gründung seiner Besten Partei (Besti flokkurinn). Seine Wahlversprechen: ein Eisbär für den Zoo, kostenlose Handtücher für alle Schwimmbäder und offene Korruption statt verdeckte. Die Partei wurde zu einer Erfolgsgeschichte. Zu der Zeit sei in Island wegen der Finanzkrise alles von Kummer und Elend geprägt gewesen. „Dann kamen wir, und wir brachten Freude und Spaß“, so Gnarr.

AP/CTK/Vit Simanek
Gnarr hat seine Erfahrungen über die Zeit als Bürgermeister in mehreren Büchern verarbeitet
Gnarr wurde er mit 37,4 Prozent gewählt. Was es allerdings heißen würde, tatsächlich Bürgermeister von Reykjavik zu sein, konnte er sich damals noch nicht so recht ausmalen. „Ich stellte mir einen Raum mit einem Schreibtisch, einem Computer und einem großen Telefon vor“, berichtete Gnarr von seiner naiven Herangehensweise. „Und wenn jemand anruft, hebe ich ab und sage ‚Hallo!‘“
Kampf mit Zahlen
Die größte Herausforderung seien die Zahlen gewesen, so Gnarr in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa. „Ich habe Probleme mit Zahlen. Das hatte ich immer von mir weggeschoben: Ich bin ein Künstler, Kreativer, ich habe nichts mit Zahlen am Hut! Aber jetzt war ich plötzlich für viele Zahlen verantwortlich. Ich musste sie verstehen und Leuten erklären, warum ich dieses oder jenes tue. Das hat mir Kopfschmerzen und furchtbare Meetings über Zahlen beschert. Aber mein Gehirn hat sich wohl neu verdrahtet: Ich habe es überwunden und gelernt, Zahlen zu verstehen.“
Auch aus Angst, ein „grauer Mann“ zu werden, zog Gnarr nach dem Ende seiner Amtsperiode die Reißleine und trat - trotz hoher Zufriedenheitswerte - nicht mehr für eine zweite Amtszeit an. Ein politischer Mensch ist Jon Gunnar Kristinsson, wie er eigentlich heißt, immer noch. „Ich verfolge die Politik in Island sehr intensiv und meistens lese ich Schlagzeilen, die mir Sorgen bereiten“, erzählte der fünffache Familienvater.
Total normal
Auch bei der Präsidentschaftswahl im Juni wollte Gnarr nicht mehr kandidieren. Gut für Gudni Johannesson, der mit 38,5 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Johannesson ging als Quereinsteiger in die Politik, war für Island aber kein unbekannter: Als Experte erklärt der Historiker im Fernsehen den Inselbewohnern seit Jahren freundlich und ruhig die Welt, an der Universität von Island lehrt er Geschichte. Auch Österreich-Bezug hat Johannesson zu bieten: Sein Bruder Patrekur ist Teamchef des Handball-Nationalteams.

Reuters/Geirix
Gudni Johannesson nach seiner Vereidigung
Privat gilt Johannesson als „ganz normaler“ Isländer, der mit Frau und Kindern in der Nähe von Reykjavik lebt, die Bewegung an der frischen Luft liebt und bei der Fußball-EM wie jeder andere mit der isländischen Nationalelf mitfieberte. „Warum soll ich in den VIP-Bereich gehen und Champagner schlürfen, wenn ich das auch überall anders auf der Welt tun kann?“, sagte Johannesson, als er beim Spiel gegen Frankreich im Island-Shirt im Fansektor aufkreuzte.
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