Anderssein als Erfolgsmodell
Der Erfolg der Partei der Piraten in Island sorgt für Staunen. Sie sind weder links noch rechts, haben keinen richtigen Spitzenkandidaten, viele weiße Stellen im Wahlprogramm und sind Teil einer Bewegung, die international fast schon wieder pulverisiert ist. Trotzdem könnten sie aus den Parlamentswahlen am Samstag als politisches Schwergewicht hervorgehen.
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Derzeit sitzen nur drei Piraten im isländischen Parlament. Glaubt man Umfragen, könnten es bald 18 bis 20 sein. Der Aufstieg der Partei im letzten halben Jahr war kometenhaft: Monatelang führte sie die Umfragen an, kurz vor der Wahl lag sie laut dem „Iceland Monitor“ mit 20,3 Prozent Zustimmung nur knapp hinter der führenden Unabhängigkeitspartei mit 21,5 Prozent. Dabei reitet die Partei auf einer Welle der Unzufriedenheit.
„Hacker der Regierungssysteme“
Als sie 2012 gegründet wurden, waren es die üblichen Piratenthemen, die sie sich an die Fahne heften: Netzpolitik, Urheberrechtsfragen, Bürgerbeteiligung und Transparenz. Mitgründerin und derzeitige Vorsitzende Birgitta Jonsdottir wurde auch durch ihre Mitarbeit bei der Enthüllungsplattform WikiLeaks bekannt und setzte sich wiederholt dafür ein, dass der US-Whistleblower Edward Snowden die isländische Staatsbürgerschaft beantragen können soll.

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Jonsdottir sieht sich nicht nur als Politikerin und Aktivistin, sondern auch als Poetin und Künstlerin
Heute sind Herzstück und Erfolgsrezept der isländischen Piratenpolitik ihre Antikorruptionskampagne und ihre Ferne zum politischen Establishment geworden. „Das isländische Volk vertraut uns, weil unsere Partei nicht an den bisherigen Regierungen beteiligt war. Wir glauben, die Menschen spüren, dass wir für systemverändernde Veränderungen stehen. Wir betrachten uns als Hacker unserer bisherigen überholten Regierungssysteme“, so Jonsdottir.
Zorn nach Finanzkrise und Panama-Papers
Tatsächlich sind die Isländer unzufrieden. Zum einen wirkt die Finanzkrise des Jahres 2008 immer noch nach. Damals stand das Land wegen der wahnwitzigen Kreditabenteuer der drei größten Banken kurz vor dem Staatsbankrott. Und dann kamen die Enthüllungen der Panama-Papers.
Im März wurde bekannt, dass der damalige Regierungschef Sigmundur David Gunnlaugsson von der Fortschrittspartei Anteilseigner einer Offshore-Gesellschaft namens Wintris Inc. auf den Britischen Jungferninseln war, die seiner Frau gehörte. Die Gesellschaft hatte laut den Panama-Papers auch in Anleihen der drei großen Pleitebanken investiert und war Gläubiger - laut dem „Iceland Monitor“ machte die Firma Ansprüche in der Höhe von fast 3,7 Mrd. Euro geltend.
Zustimmungswerte von 40 Prozent
Nachdem soziale Ungerechtigkeit, Steuerbetrug und der wirtschaftliche Wiederaufbau die entscheidenden Themen bei der Wahl des erst 38-jährigen Gunnlaugsson im Jahr 2013 waren, hatten die Isländer nach den Enthüllungen die Nase gestrichen voll - die dahin größten Proteste des Landes kosteten ihn sein Amt. Die Piraten erreichten kurz nach den Enthüllungen der Panama-Papers Zustimmungswerte von 40 Prozent.

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Tausende Isländer gingen nach den Enthüllungen der Panama-Papers auf die Straßen
Egal, wer am Samstag die Nase vorne hat: Die Regierungsbildung dürfte schwierig werden. Der Unabhängigkeitspartei dürfte es nicht gelingen, auf die nötige Zweidrittelmehrheit für eine Mitte-rechts-Koalition zu kommen. Aber auch für ein Mitte-links-Bündnis könnte es knapp werden: Zwar haben Piraten, die Linksgrüne Bewegung, die Sozialdemokraten und die Partei Glänzende Zukunft ein Bündnis angekündigt, ob sie damit eine Regierung bilden können, bleibt aber offen.
Vorsicht geboten
Dass die Piraten in vielen Bereichen keine klare und einheitliche Strategie haben, sich ideologisch kaum einordnen lassen und auf basisdemokratische Entscheidungsfindung setzen, scheint ihnen wenig zu schaden. Sie profitieren davon, dass viele Isländer Veränderung wollen - etwa in der Fischerei, im Gesundheitswesen, bei der Verfassung oder bei Korruption und Vetternwirtschaft auf der 300.000 Einwohner zählenden Insel.
Dabei gibt sich die Partei betont zurückhaltend: Man sei für die Verantwortung bereit, müsse aber „besonders vorsichtig und kritisch“ mit sich selbst sein, so Jonsdottir. Sie glaube auch nicht, dass man in der Wirtschaft in der ersten Periode große Wellen schlagen werde. Drastische Änderungen im Finanzsektor seien nicht geplant. Dass sich Jonsdottir in einer anderen Bewegung für einen isländischen Anschluss an Norwegen starkmacht, scheint ihrer Partei nicht zu schaden. Viel mehr dürfte honoriert werden, dass sie sich für eine Volksabstimmung zu EU-Beitrittsverhandlungen starkmacht.
Piraten an sich selbst gescheitert
Bei ihrem Höhenflug können Islands Piraten nur hoffen, dass sie nicht das Schicksal ihrer Schwesterbewegungen ereilt. Rund um 2010 verhalfen Systemmüdigkeit, neue netzpolitische Problemfelder und die Lust auf frischen Wind der Piratenpartei zumindest regional zu unerwarteten Erfolgen.
Besonderen Erfolg feierte die Partei in Deutschland, wo sie landesweit 44 Regionalmandate ergattern konnte. In Berlin zog die Partei 2011 mit überraschenden 8,9 Prozent und 15 Abgeordneten ins Landesparlament ein. Obwohl die Berliner Piraten zahlreiche Anträge einbrachten, sich Experten herausbildeten und sie ihre Themen oftmals erfolgreich auf die Agenda setzen konnten, endete die anfängliche Aufbruchsstimmung im politischen Fiasko.

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Bilder aus besseren Zeiten: Berliner Piraten feierten 2011 ihren Wahlerfolg
Im Grunde scheiterten die Piraten auch an sich selbst: Persönliche Animositäten führten zu Abspaltungen, Kleinkriege wurden online für jeden ersichtlich ausgefochten, auch Mobbing fand statt. Inhaltlich verzettelten sich die Piraten oft in basisdemokratischer Meinungsfindung mit wenig Konsensbereitschaft, die letztlich zu keinem Resultat führte. Gleichzeitig gerieten sie in die Mühlen jenes politischen Tagesbetriebs, dem sie so intensiv Opposition boten: Das „Establishment“ konnte viele Vorhaben der kleinen Fraktion im Keim ersticken.
„Unpolitisch und unfähig zum Kompromiss“
Anfang September verschwand die Berliner Piratenpartei mit 1,7 Prozent in der Versenkung. „Die Piratenpartei als politische Bewegung hat ihre historische Chance nicht genutzt“, sagt der ehemalige Berliner Pirat Christopher Lauer, der 2014 austrat und nun bei der SPD ist. „Ein Großteil der Piraten war immer unpolitisch und unfähig zum Kompromiss.“ Der Mord, den der umstrittene Piratenpolitiker Gerwald Claus-Brunner an einem Bekannten verübte, mit anschließendem Suizid, warf zusätzlich einen dunklen Schatten auf die sich auflösende Bewegung.
Zu wenig Programm bei zu viel politischem Tagesgeschäft, zu viele Köche, die den Brei verderben und unkooperative politische Mitbewerber: Derlei Stricke könnten auch die isländischen Piraten zu Fall bringen. Sollten sie tatsächlich den überwältigenden Sieg feiern, der ihnen prognostiziert wird, müssten sie jedenfalls als erste Piratenfraktion in einer nationalen Regierung beweisen, dass die Bewegung noch nicht ganz verloren ist.
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