Themenüberblick

Kern sieht „langsam Problembewusstsein“

In Wien ist Samstagnachmittag der Flüchtlingsgipfel auf Einladung von Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) zu Ende gegangen. Er zeigte sich danach vorsichtig optimistisch. Themen waren vor allem die Sicherung der EU-Außengrenzen, die geschlossene Balkan-Route und Möglichkeiten zur Unterstützung der am stärksten betroffenen Länder, auch der Herkunftsländer.

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Er sehe erstmals „langsam ein Problembewusstsein“ entstehen, sagte Kern nach dem Gipfel im Bundeskanzleramt bei einer Pressekonferenz. Unter anderem rechnet Kern mit einem baldigen Rückführungsabkommen mit Afghanistan, ähnliche Abkommen mit den afrikanischen Staaten Mali und Niger seien im Gespräch. Er verwies auf das Beispiel der Vereinbarung über die Rücknahme von Flüchtlingen mit der Türkei.

Bundeskanzler Christian Kern

APA/Herbert Neubauer

Kern zeigte sich nach dem Treffen vorsichtig optimistisch

Mehr Grenzschutz und mehr Unterstützung vor Ort

Kern bekräftigte, wie schon vor Beginn des Treffens von elf Staats- und Regierungschefs, Ministern und EU-Spitzenpolitikern sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk, die Forderung nach einem stärkeren Schutz der Außengrenzen der Union. Die EU-Grenzschutzmission Frontex sei derzeit nicht ausreichend mit Kapazitäten ausgestattet. Er könne sich auch eine Verstärkung des Einsatzes durch militärische Kräfte vorstellen, so Kern. Österreich habe hier gute Erfahrungen gemacht.

Tusk: Balkan-Route muss geschlossen bleiben

Tusk hatte zuvor erklärt, dass er „seit dem ersten Tag keinen Zweifel“ daran gehabt habe, wie wichtig eine effektive Kontrolle der Außengrenze sei. Eine essenzielle Voraussetzung dafür sei eine „enge Zusammenarbeit“ zwischen den Partnerländern im Westbalkan sowie der Türkei, betonte Tusk vor der Presse. Zur Balkan-Route erklärte der EU-Ratspräsident, dass diese fix geschlossen bleiben müsse. „Wir müssen praktisch und politisch sicherstellen, dass die Westbalkan-Route für illegale Migration für immer geschlossen ist.“

Solidarität „nicht a la carte“

EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos hatte, ebenfalls zu Beginn des Gipfels, Solidarität eingemahnt. Die „gibt es nicht a la carte“, sagte er. „Solidarität und Verantwortungsbewusstsein sind Grundsatzwerte.“ Avramopoulos unterstrich, dass alle Mitgliedsstaaten auch rechtlich zur Einhaltung dieser Prinzipien verpflichtet sind.

Es handle sich „nicht nur um moralische Werte, sondern auch um juristische Prinzipien, die explizit in den EU-Verträgen enthalten sind“. Aber: Natürlich müsste es auch darum gehen, dass „wir all diese verzweifelten Menschen mit Menschlichkeit und Würde behandeln“.

„Griechische Grenzen sind auch EU-Grenzen“

Auch der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras forderte mehr Solidarität. „Es ist inakzeptabel, dass die Last auf das erste Ankunftsland fällt“, sagte er laut griechischer Nachrichtenagentur ANA am Samstag. Der Migrationskrise sollte gemeinsam „mit Solidarität und fairer Verteilung der Lasten“ begegnet werden.

Der Verteilungsprozess solle beschleunigt werden - aus Griechenland wurden bisher erst rund 4.000 der vereinbarten 66.000 Schutzsuchenden auf andere EU-Länder verteilt. Ebenso beschleunigt werden sollten die Rückführungen von Flüchtlingen in die Türkei, forderte Tsipras. „Griechische Grenzen sind auch EU-Grenzen.“

Gruppenbild vom Flüchtlingsgipfel in Wien

APA/AP/Ronald Zak

Elf Staats- und Regierungschefs, Minister und EU-Spitze

Anders als beim umstrittenen Westbalkan-Gipfel zu Jahresbeginn nahmen am Samstag in Wien neben Staats- und Regierungschefs bzw. Ministern von sieben Westbalkan-Staaten und Österreich auch die Regierungschefs von Griechenland und Deutschland, Angela Merkel und Tsipras, teil. Beide waren nach dem Gipfel im Februar und dem Beschluss zur Schließung der Westbalkan-Route verärgert.

Merkel sieht Fortschritte

Nach dem Treffen am Samstag sah Merkel Fortschritte bei der Bekämpfung der illegalen Migration. Im Vergleich zur Situation vor etwa einem Jahr sei sehr viel erreicht worden, sagte sie. „Unser Ziel muss sein, die illegale Migration so weit wie möglich zu stoppen“, so Merkel. Sie sicherte unter anderem Griechenland und Italien weitere Hilfe zu. Deutschland werde aus diesen Ländern mehrere hundert Flüchtlinge pro Monat aufnehmen. Gerade diese Menschen brauchten eine Perspektive, sagte die deutsche Regierungschefin.

Bundeskanzler Christian Kern und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel

APA/Herbert Neubauer

In Wien bei Kern diesmal auch dabei: die deutsche Kanzlerin Merkel

Die Rückführung von Menschen ohne Aussicht auf Asyl müsse allerdings verstärkt werden. Dazu sollten die Rückführungsabkommen mit Staaten Nordafrikas sowie mit Afghanistan und Pakistan schnell abgeschlossen werden, betonte Merkel ähnlich wie Kern. Vergleichbare Abkommen wie mit der Türkei sollten mit Ägypten und anderen afrikanischen Staaten geschlossen werden. „Wir wollen insgesamt Illegalität bekämpfen und Legalität stärken.“

Orban fordert Flüchtlingslager in Libyen

Ungarns Regierungschef Viktor Orban forderte bei einer Pressekonferenz nach dem Gipfel die Errichtung eines Großaufnahmelagers in Libyen. In dem nordafrikanischen Küstenstaat sollten die Asylanträge von Flüchtlingen aus Afrika bearbeitet werden. Dazu sollte die EU den Kontakt zur dortigen Regierung suchen und ihr Waffenembargo aufheben. In Libyen herrschen praktisch seit dem Sturz und Tod von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 bürgerkriegsartige Zustände.

Orban forderte eine neue „Verteidigungslinie für Europa“. Diese müsste bei einem Scheitern des EU-Türkei-Deals und falls es bis Jahresende nicht gelingt, die EU-Außengrenze zu schützen, gezogen werden. Die Teilnehmer des Treffens hätten sich nicht darauf geeinigt, wo diese Linie im Fall der Balkan-Route verlaufen sollte, erklärte Orban: entweder an der mazedonisch-griechischen, der serbisch-mazedonischen oder der ungarisch-serbischen Grenze.

Differenzen mit Ungarn bleiben

Alle Optionen würden einem Ausschluss Griechenlands aus dem Schengenraum gleichkommen. Orban sprach sich jedoch gegen die „von manchen in Österreich vertretene Position“ aus, die Verteidigungslinie an der ungarisch-österreichischen Linie zu ziehen.

Kern sagte zum Streit über die Rücknahme von Flüchtlingen gemäß der Dublin-Regelung mit Ungarn, dass das Thema vermutlich politisch nicht zu lösen sei. Vorrangig sei nun der Schutz der Außengrenze. Außerdem mache es keinen Sinn, diese Frage mit Budapest „immer und immer wieder zu diskutieren“. Er wolle sich lieber darauf konzentrieren, „wo wir was erreichen können“. Die Dublin-Regelung besagt, dass jenes Land für das Asylverfahren eines Flüchtlings zuständig ist, in dem dieser erstmals europäischen Boden betreten hat.

Proteste gegen „Unrechtspolitik“

Den Gipfel verlasse er optimistisch, so Kern. Doch wenn Europa „an dieser Frage scheitert“, „möglicherweise auch noch der Türkei-Deal kollabiert“, dann stelle dies das Projekt europäische Einigung auf eine „massivste Belastungsprobe“. An dem Treffen im Bundeskanzleramt nahmen neben Tusk, Avramopoulos, Merkel und Tsipras Regierungschefs und Minister aus Slowenien, Kroatien, Serbien, Albanien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Mazedonien teil. Für den hochrangig besetzten Gipfel wurde die Wiener Innenstadt teilweise gesperrt. Im Bereich des Minoriten- und Ballhausplatzes sowie beim Volksgarten wurde ein Platzverbot erlassen.

Anlässlich des Gipfels demonstrierten in der Nähe einige Dutzend Menschen gegen die derzeitige europäische Flüchtlingspolitik, die sie als „Unrechtspolitik“ bezeichneten. „Wir wollen das! Wir können das! Wir machen das!“ und „Nein zur Festung Europa“, skandierten die Teilnehmer der von der „Plattform für eine menschliche Asylpolitik“ organisierten Kundgebung hinter dem Wiener Burgtheater. „Don’t forget humanity“ („Vergesst nicht auf Menschlichkeit“) war auf Transparenten zu lesen.

Sobotka ersucht um Verlängerung für Kontrollen

Am Rand des Treffens ersuchte Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) EU-Migrationskommissar Avramopoulos um eine Genehmigung für die Verlängerung der Grenzkontrollen. Die als Folge der Flüchtlingskrise eingeführte Maßnahme läuft im November aus. Avramopoulos habe die Forderung zur Kenntnis genommen, teilte Sobotkas Büro mit. Wenn es keinen funktionierenden Schutz der Außengrenzen gäbe, sei man auf nationale Maßnahmen wie Binnenkontrollen angewiesen. In der Frage geht es konkret um die Kontrollen an der Grenze zu Ungarn und Slowenien. Für den Brenner (Italien) gibt es keine Genehmigung.

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