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Vom Underground zum Mainstream

„Ich hoffe, die Pistols schaffen es“, hat ein englischer Teenager im Juni 1976 an das Musikmagazin „NME“ geschrieben, „vielleicht könnten sie sich dann Kleidung leisten, die nicht so aussieht, als hätten sie darin geschlafen.“ Nur knapp drei Monate später sollte sich der Wunsch des 17-jährigen Leserbriefschreibers erfüllen.

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Am 20. und 21. September 1976 traten die Sex Pistols als Headliner beim ersten Punkfestival Englands auf. Im legendären 100 Club in London spielten an diesen beiden Abenden außerdem The Clash, Siouxsie and the Banshees, The Damned, die Vibrators und Subway Sect. Das Festival war für die Bands Meilenstein und Wendepunkt zugleich: Es folgten Schlagzeilen, Fernsehauftritte und - nicht zuletzt - kommerzieller Erfolg.

„Neue Dekade des Rock“

Was in den Jahren zuvor in den USA mit den Ramones, Patti Smith und dem New Yorker Club CBGB begann, hatte mit den Sex Pistols, The Clash und dem Londoner 100 Club sein Pendant auf der anderen Seite des Atlantiks gefunden.

Die Band "The Clash" bei einem Konzert im "100 Club" im Jahr 1976

picturedesk.com/Rex Features/Ray Stevenson

The Clash am 20. September 1976 im 100 Club (links Joe Strummer, rechts Paul Simonon)

Die 600 Fans, die zwei Häuserblocks Schlange standen, seien „unumstrittener Beweis, dass eine neue Dekade des Rock bevorsteht“, schrieb das Musikmagazin „Melody Maker“. Ron Watts, der das Festival organisiert hatte, erinnert sich später in seiner Autobiografie, man habe die A&R-Manager der Plattenfirmen förmlich spüren können, wie sie vor dem Club in der Oxford Street lauerten.

Offizielles England feiert ehemaligen Staatsfeind

40 Jahre später feiert England 1976 als das Jahr, in dem Punk explodiert ist. Das ganze Jahr über finden in London Veranstaltungen statt, organisiert von Institutionen wie dem British Fashion Council und dem Museum of London - und mit dem Segen des Buckingham Palace, dem Sinnbild für so ziemlich alles, wogegen Punk jemals stand.

Als Geburtsstunde des Punk wird gerne der 26. November 1976 genannt, der Tag, an dem die Sex Pistols ihre erste Single „Anarchy in the U.K.“ veröffentlichten. Der Plattenvertrag mit dem Label EMI, der am 8. Oktober 1976 unterzeichnet wurde, war eine direkte Konsequenz ihres Auftritts im 100 Club. „Bei all ihrem Draufgängertum wollten die frühen Punkbands doch genauso erfolgreich sein wie alle anderen und sie wussten, dass dies ein wichtiger Tag in ihrem Leben war“, schreibt Watts.

McLarens akribisch geplante Kampagne

Watts hatte die Sex Pistols einige Wochen zuvor live gesehen und engagierte sie als Headliner für das Festival im 100 Club. Deren Manager Malcolm McLaren, der mit Designerin Vivienne Westwood zudem die Szeneboutique SEX in der Londoner Kings Road betrieb, kam das vermutlich nicht unrecht. „Er bereitete den endgültigen Angriff auf die Medien vor“, schreibt der britische Musikjournalist John Savage in seinem vielbeachteten Buch „England’s Dreaming“, „wenn nötig, dann sollte die Bewegung per Kaiserschnitt geboren werden“.

„Trotz aller Polemik waren die Sex Pistols gierig nach Ruhm“, so Savage. Das Festival im 100 Club sei der Höhepunkt von McLarens Kampagne gewesen, die Plattenfirmen zu umwerben. „Kündige deine Musik immer so theatralisch wie möglich an!“, schrieb McLaren später in einem Manifest.

„Wir haben eine Band!“

Während die Vorbereitungen für das Festival auf Hochtouren liefen, erfuhr Sängerin Siouxsie Sioux, dass das Line-up noch nicht vollständig war: „Malcolm sagte: ‚Wir brauchen noch eine Band.‘ Und ich sagte: ‚Wir haben eine Band.‘ - Wir hatten keine.“ Kurzerhand stellte die damals 19-Jährige eine Gruppe für den Auftritt im 100 Club zusammen.

Bass sollte ihr Freund Steven Severin spielen. Für die Gitarre fand sich Marco Pirroni, der später mit Adam and the Ants bekannt wurde. Als Schlagzeuger sagte Billy Idol zu, der tauchte dann aber zur einzigen Probe nicht auf. In letzter Minute sprang Sid Vicious ein, der spätere Bassist der Sex Pistols. Auch ein Name fand sich schnell: Wenige Tage zuvor lief der britische Horrorfilm „The Cry of the Banshees“ im Fernsehen und „wir fanden ‚Banshee‘ war ein tolles Wort“.

Die Band "Siouxsie and the Banshees" bei einem Konzert im "100 Club" im Jahr 1976

picturedesk.com/Rex Features/Ray Stevenson

Siouxsie Sioux, Marco Pirroni, Steve Severin und Sid Vicious im 100 Club

Der erste Auftritt von Siouxsie and the Banshees war komplett improvisiert. Die gerade zusammengesetzte Band hatte keine Songs und war gerade erst dabei, ihre Instrumente spielen zu lernen. „Wir machten uns über alles lustig, was wir hassten“, sagte Siouxsie Sioux später. Sie sang Bob Dylans „Knockin’ on Heaven’s Door“, „Twist and Shout“ sowie „She Loves You“ von den Beatles und rezitierte das „Vater Unser“, während Sid Vicious pausenlos auf das Schlagzeug eintrommelte.

The Clash, Patti Smith und Shane MacGowans Ohr

The Clash wurden immerhin bereits drei Monate vor ihrem Auftritt im 100 Club gegründet. Ihr erstes Konzert spielten sie im Juli 1976 als Vorgruppe der Sex Pistols. Am 23. Oktober, nur einen Monat nach dem Punkfestival, wurden sie erstmals als Headliner gebucht. Der Bekanntheitsgrad der Band war mittlerweile so stark gestiegen, dass keine Geringere als Patti Smith auf die Bühne kam, um zu tanzen. Bassist Paul Simonon hatte angeblich keine Ahnung, wer sie war.

Buchhinweise

Viv Albertine: Clothes Clothes Clothes Music Music Music Boys Boys Boys. Faber & Faber, 419 Seiten, 8,22 Euro.

John Lydon: Anger Is An Energy. My Life Uncensored. Simon & Schuster, 536 Seiten, 10,27 Euro.

Victoria Mary Clarke/Shane MacGowan: A Drink with Shane MacGowan. Grove Press, 384 Seiten, 13,97 Euro.

Chris Salewicz: Redemption Song. The Definite Biography Of Joe Strummer. Harpercollins, 660 Seiten, 19,01 Euro.

Jon Savage: England’s Dreaming. Faber & Faber, 672 Seiten, 16,02 Euro.

Ron Watts: Hundred Watts: A Life in Music. Heroes Publishing, 240 Seiten, 10,27 Euro.

Eine weitere Mär ist untrennbar mit diesem Abend verbunden: Einem jungen Punk namens Shane MacGowan soll ein Ohr abgebissen worden sein. McGowan gründete später die Folk-Punk-Band The Pogues und stellte klar: Sein Ohr war nicht abgebissen, sondern habe lediglich stark geblutet, weil es von einer Freundin mit einer zerschlagenen Flasche aufgeritzt worden war. The Clash unterschrieben schließlich im Februar 1977 ihren ersten Plattenvertrag, bei CBS Records.

Sid Vicious’ kurzes Jahr mit den Sex Pistols

Zerbrochenes Glas spielte auch beim Festival im 100 Club eine Rolle. Während des Auftritts von The Damned wurde ein Bierglas nach vorne geworfen, es zerschlug an einer Säule. Eine junge Frau wurde so unglücklich von einem Splitter getroffen, dass sie auf einem Auge erblindete. Sid Vicious wurde als mutmaßlicher Täter festgenommen. Er beteuerte monatelang seine Unschuld, neben anderen setzte sich Westwood für ihren Schützling ein. Die Anklage wurde schließlich aus Mangel an Beweisen fallengelassen.

Ein Jahr nach dem Vorfall habe er ihr anvertraut, dass er das Glas doch geworfen hatte, schreibt seine enge Freundin Viv Albertine, Gitarristin der Slits in ihrer Autobiografie. Vicious, der mit bürgerlichem Namen John Simon Ritchie hieß, war schließlich von Februar 1977 bis zu deren Auflösung Anfang 1978 Mitglied der Sex Pistols. Er starb am 2. Februar 1979 an einer Überdosis. Nur einen Tag zuvor war er gegen Kaution aus dem Gefängnis freigelassen worden, wo er wegen des Verdachts, seine Freundin Nancy Spungen erstochen zu haben, inhaftiert war.

„Hells Angels in ‚Clockwork Orange‘-Alptraum“

Vicious’ Tod im Jahr 1979 war der Zeitung „The Sun“ bereits das Titelblatt wert. Erstmals widmete sich das Boulevardblatt dem Thema Punk zwei Wochen nach dem Festival im 100 Club: Illustriert mit Sicherheitsnadeln, Handschellen und Hakenkreuzen wurden Punks als „Hells Angels in einem ‚Clockwork Orange‘-Alptraum“ beschrieben. Der „London Evening Standard“ kündigte einen „neuen apokalyptischen Kult mit rauer dogmatischer Gesinnung“ an. Die Musikmagazine „Melody Maker“ und „Sounds“ brachten umfassende Berichte über das Festival, in denen „die neue Generation“ hochgejubelt wurde.

Johnnie Rotten und Sid Vicious von der Band "The Sex Pistols"

AP

Die Sex Pistols (links Sid Vicious, rechts Johnny Rotten) 1978 auf US-Tour

Die Bands, die am 20. und 21. September 1976 im 100 Club auftraten, sollten noch Generationen von Musikerinnen und Musikern beeinflussen. Auch jenen 17-jährigen Leserbriefschreiber, der sich für die Sex Pistols den Durchbruch wünschte, damit sie sich Kleidung leisten könnten, „die nicht so aussieht als hätten sie darin geschlafen“. Er hieß Steven Patrick Morrissey und hatte nur wenige Jahre später selbst seinen Durchbruch in der Musikindustrie - als Sänger der Band The Smiths.

Romana Beer, ORF.at

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