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Die Erfindung der „Slapstick-Archäologie“

Kaum ein Fund erzählt mehr über das Leben in der Jungsteinzeit als Ötzi, der vor mehr als 5.000 Jahren ein eisiges Grab gefunden hat. Seit seiner Entdeckung vor 25 Jahren feiern Profi- wie Hobbyforscher fröhliche Urstände. Doch sorgte die Mumie von Beginn an für jede Menge Stoff abseits der Wissenschaft. Vom Fluch der Mumie war ebenso die Rede, die Bergung der Leiche war an Dilettantismus kaum zu überbieten.

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Am 19. September 1991 hatte das Eis die Gletscherleiche so weit freigegeben, dass ein deutsches Bergsteigerehepaar auf den mumifizierten Körper aufmerksam wurde – die wenige Tage später begonnene Bergung bescherte Ötzi jedoch gröbere körperliche Blessuren, als er sie vor seinem wohl nicht ganz gewaltfreien Tod erleiden musste.

Die Bergung der Mumie mutierte damals angesichts der Ahnungslosigkeit der Beteiligten zur Provinzposse, wie sie kaum ein Drehbuch hübscher ausschmücken könnte. Deutsche Medien sprachen sogar von „Slapstick-Archäologie”, die sich am 23. September 1991 auf über 3.200 Metern Seehöhe ereignete, und übten sich damit keineswegs in Übertreibung, wie sich im Laufe der Jahre herausstellte.

Zu sperrig für den Sarg

Nicht nur, dass jener Polizist, der die Leiche zuerst bergen wollte, mit schwerem Gerät rohe Gewalt ausübte, durch die Ötzis Hüfte schwer beschädigt wurde. Als die Leiche und die gefundenen Gegenstände zwecks Transports in einen Plastiksack gepackt wurden und Ötzis Bogen dafür zu sperrig war, wurde die Waffe in aller Pragmatik in zwei handliche Teile zerbrochen.

Kurz darauf bereitete der Fund, von dem die Behörden zunächst ausgegangen sind, es handle sich um einen verunglückten Bergsteiger jüngeren Datums, auch noch dem Bestatter im Ötztaler Vent Schwierigkeiten. Ötzis stark abgewinkelter linker Arm machte es unmöglich, den Sargdeckel zu schließen.

Beinahe bestattet

Erst als der Bestatter der Mumie den Oberarm gebrochen hatte, war sie bereit für den Abtransport in die Innsbrucker Gerichtsmedizin, deren Plan es war, den Gletscherfund zur Bestattung freizugeben, weil ein potenzieller Mörder vermutlich nicht mehr zu finden sei.

Als sich dann der Prähistoriker Konrad Spindler von der Universität Innsbruck des ledrigen Körpers annahm, wurde langsam deutlich, welche Sensation im Sommer 1991 aus dem Eis aperte. 20 Jahre später, im Jahr 2011, stellte sich heraus, dass auch Ötzis rechter Arm während der Bergung gebrochen worden war.

Beflügelte Fantasien

Die zufällige Anwesenheit Reinhold Messners in der Nähe des Fundortes tat ihr Übriges, um in den ersten Tagen des Fundes die wildesten Theorien kursieren zu lassen. Angesichts der Ausrüstung des Toten ging Messner immerhin von einem Fund aus dem Mittelalter aus.

Die Annahme vermischte sich mit der historisch längst widerlegten Geschichte, dass Herzog Friedrich IV. von Tirol im 15. Jahrhundert für einige Zeit auf den Rofenhöfen in der Nähe von Vent Zuflucht gefunden haben soll. In Ötzi wurde ein Gefolgsmann von Friedl mit der leeren Tasche gesehen, wie der Herzog im Volksmund genannt wird. Ein exakter Vorgeschmack dessen, was auf Ötzi noch alles zukommen sollte: krude Theorien, die nicht beweisbar sind, aber die Fantasie beflügeln – das funktionierte damals auch vollkommen ohne Social-Media-Kanäle prächtig.

Der vereitelte Ötzi-Klau

Über Ötzi wusste damals jeder etwas zu berichten. Lediglich die Frage, warum Ötzi ausgerechnet jetzt zum Vorschein gekommen ist, wurde zunächst eher halbherzig behandelt. Denn wenige Tage nach dem Fund, stellte sich eine ganz andere Frage, die wichtiger schien als archäologische Aspekte: Ist Ötzi Österreicher oder Italiener?

Der Grenzverlauf am Fundort war nicht klar ersichtlich. In Hinsicht auf die Wasserscheide des Gletschers war Ötzi Österreicher. Jedoch nach dem wahren Grenzverlauf unterhalb des Gletschereises lag Ötzi auf italienischem Boden – knapp 93 Meter von der Grenze entfernt. Anlässlich des bevorstehenden 25-jährigen Jubiläums meldete sich vergangene Woche Messner abermals zu Wort.

Wäre er damals nicht so schnell am Fundort gewesen und hätte er nicht sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass Ötzi genauso auf italienischem Boden liegen könnte, „dann hätten die Österreicher Ötzi geklaut und für immer behalten”, sagte Messner letzte Woche dem „Westfalen-Blatt”.

Ötzi als Ägypter

Und natürlich dauerte es damals nicht lange, bis die ersten Verschwörungstheorien auftauchten. Allein die Anwesenheit Messners war vielen verdächtig. Keine zwei Jahre nach der Entdeckung, noch bevor der ganz große Publikationsreigen zu Ötzi ins Rollen gekommen war, erschien ein Buch, das behauptete, Ötzi sei eine Fälschung. Die Mumie stamme aus Ägypten oder einer anderen altertümlichen Kultur. Irgendjemand habe Ötzi, aus welchen Gründen auch immer, auf dem Gletscher abgelegt. Für etliche Verschwörungstheoretiker war es eine einfache Rechnung: Der Messner war’s - er habe die Mumie von einer seiner Expeditionen mitgebracht.

Letzte Mahlzeit: Alpensteinbock

Als sich die erste Aufregung gelegt hatte, war die Wissenschaft am Zug, die im Laufe der vergangenen 25 Jahre der Mumie Informationen entlockte wie kaum ein historischer Leichenfund zuvor. Ötzi lieferte beispiellose Erkenntnisse zum Leben in der Jungsteinzeit.

Heuer konnte nachgewiesen werden, dass Ötzi das Bakterium Helicobacter pylori in seinem Magen trug und wohl unter erheblichen Magenbeschwerden litt. Wobei Ötzis Magen erst im Jahr 2009 verortet werden konnte. Seit 2011 ist bekannt, dass Ötzi eine Stunde vor seinem Tod noch eine letzte Mahlzeit eingenommen hat: Fleisch vom Alpensteinbock, was wiederum viele Theorien zum Tod Ötzis zerbröseln ließ. Über lange Zeit wurde von einer hastigen Flucht Ötzis ausgegangen, die ihn vom Tal in die Berge führte. Die Jause widerlegt die Annahme.

Die übersehene Pfeilspitze

Doch auch die Wissenschaft hat sich nicht nur mit Ruhm bekleckert. So dauerte es ganze zehn Jahre, bis sich herausstellte, dass Ötzi eine Pfeilspitze in der Schulter stecken hat. Österreichische Wissenschaftler hatten das relevante Detail ebenso jahrelang übersehen wie die italienischen Kollegen, die die Pfeilspitze anno 2001 entdeckten. Dabei war die Pfeilspitze bereits auf frühen Röntgenaufnahmen zu sehen. Seitdem muss ein Tod Ötzis angenommen werden, dem massive Gewalteinwirkung voranging.

Fix ist: Ötzi war tätowiert, er hatte Gallensteine sowie einen erhöhten Cholesterinspiegel, der Mann aus dem Eis war laktoseintolerant und hatte Karies sowie eine leichte Parodontose. Die Erkenntnisse füllen mittlerweile ganze Bücherregale und lassen über die Verschwörungstheorien der ersten Jahre heute schmunzeln.

Merchandising wie ein Popstar

Ebenso sicher ist, dass sich mit der Gletschermumie gute Geschäfte machen lassen. Themenparks in Nord- und Südtirol so wie das Südtiroler Archäologiemuseum, wo sich Ötzi heute befindet, machen mit dem Sensationsfund gute Geschäfte. Ötzis Merchandising steht jenen von Popstars in nichts nach.

Vor diesem Hintergrund ist auch der jahrelange Rechtsstreit zu betrachten, den die Entdecker Ötzis, das deutsche Ehepaar Erika und Helmut Simon, fast 20 Jahre lang ausfochten. Der Streit drehte sich um einen angemessenen Finderlohn, den das Land Südtirol über Jahre verweigerte.

Die Summe von 175.000 Euro wurde letztlich im Jahr 2010 ausbezahlt. Helmut Simon erlebte das alles nicht mehr. Der Entdecker Ötzis hat im Oktober 2004 einen ähnlichen Tod gefunden wie Ötzi, was sogleich als Fluch der Mumie ausgelegt wurde. Der erfahrene Bergsteiger Simon war zu einer Tour im Salzburger Gasteinertal aufgebrochen, stürzte 100 Meter ab und wurde erst eine gute Woche später in einem Bachbett liegend gefunden.

Johannes Luxner, ORF.at

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