Die andere „Leichtigkeit“ des Seins
Den Wiener Weg in die kulturelle Moderne, die unter anderem mit Secession, Jugendstil und Wiener Werkstätte bis heute Stadt und Kulturgeschichte prägt, zeichnet ein aktuelles Buch unter einem besonderen Blickwinkel nach.
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Es zeigt nicht nur die Bedeutung, die jüdische Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler für den großen kulturellen Umbruch hatten, es rückt vielmehr eine Gruppe von Personen in den Mittelpunkt, deren Einfluss auf die Künstler bisher weit unterschätzt wurde.
Jüdische Mäzene wie Eduard von Todesco, Gustav von Epstein, Karl Wittgenstein, Fritz Waerndorfer und Leopold Goldman haben sich im wahrsten Sinne des Wortes in das Stadtbild eingeschrieben: ob mit prächtigen Palais an der Wiener Ringstraße, etwa dem Todesco und dem Epstein, oder mit dem Secessionsgebäude, der 1970 abgerissenen Villa Beer-Hofmann und dem Loos-Haus am Michaelerplatz.
Das Spiel mit der Identität
Ihre Rolle bei der kulturellen Neuerfindung Wiens um 1900 ging über die reine Finanzierung von Künstlern und Projekten weit hinaus. Sie sahen Design und Kunst als Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden - und sie nützten das, um ihr Umfeld radikal zu ändern und ihm den eigenen Stempel aufzudrücken: Integration in die Wiener Gesellschaft nicht mehr um den Preis der Aufgabe der eigenen Identität, sondern durch eine ebenso kreative wie selbstbewusste Interpretation der eigenen jüdischen Identität.

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Karl Wittgenstein mit seiner Frau Leopoldine
Am Beispiel mehrerer jüdischer Mäzene zeigt die Kultur- und Kunsthistorikerin Elana Shapira in ihrem aktuellen Buch „Style and Seduction: Jewish Patrons, Architecture and Design in Fin de Siecle Vienna“ auf, wie grandios das teilweise gelang und welch bleibender kultureller Mehrwert dabei entstand. Shapira wirft mit ihrer spannend zu lesenden kunstgeschichtlichen Analyse etwa der Secession und des Loos-Hauses einen neuen Blick auf dieses wichtige Kapitel der Wiener Geschichte.
Regeln selbst festlegen
Leute wie der Stahlmagnat Wittgenstein und der Textilindustrielle Waerndorfer wählten bewusst nicht den Weg der kulturellen Assimilation - also in der Mehrheitskultur aufzugehen -, betont Shapira im Interview mit ORF.at. Hier handle es sich vielmehr um einen Prozess der Akkulturation, also der Integration in die - gehobene - Wiener Gesellschaft, „aber unter Wahrung des jüdischen kulturellen Narrativs“.
Es sei ihnen darum gegangen, „die Regeln des - gesellschaftlichen - Spiels selbst zu bestimmen und festzulegen“. „Schwarzenberg hat Rothschild noch als ‚mein Hofjude‘ bezeichnet - das wollte der Vater des Philosophen Ludwig Wittgenstein auf keinen Fall mehr.“
„Richtige Macher“
Sie wählten die öffentliche Kunst als Medium, um sich selbst eine neue Rolle maßzuschneidern und damit ihren Platz in der Wiener Gesellschaft zu finden. Um die erwünschte Wirkung zu erzielen, musste diese Kunst öffentlich sein - und nichts eignete sich dafür besser als Architektur.
Mäzene wie Epstein, Wittgenstein, Waerndorfer und die Herausgeber der Zeitung „Die Zeit“, Heinrich Kanner und Isidor Singer, waren „richtige Macher“, so Shapira - und „all jene Künstler, die experimentieren wollten, wussten, dass sie sich an sie wenden müssen“. So kam es, dass zentrale Figuren der Wiener Moderne - von Gustav Klimt über Joseph Maria Olbrich und Josef Hoffmann bis zu Otto Wagner und Adolf Loos - ihren Aufstieg oder Stiländerungen wesentlich jüdischen Förderern verdankten.

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Das Palais Todesco gegenüber der Oper war Adresse für viele hochrangige Abendgesellschaften
Die Mäzene prägten die künstlerische Entwicklung: einige durch konkrete inhaltliche Vorgaben, alle aber durch den Willen, ihre Herkunft nicht zu verleugnen, sondern in neuer und moderner Interpretation auszudrücken.
Hellenismus als gemeinsame Welt
Todesco engagierte für sein Palais - nach 1945 jahrzehntelang Sitz der ÖVP-Zentrale - die beiden wohl wichtigsten Architekten der Ringstraße, Ludwig von Förster und Theophil von Hansen. Für die Außenfassade wählte Todesco mit einer Reihe von Karyatiden ganz gezielt prominente griechische Symbole. Das repräsentative Esszimmer ließ Todesco mit Motiven aus dem Trojanischen Krieg ausstatten. Todesco knüpfte damit bewusst an das reiche jüdische Erbe der hellenistischen Zeit an. Der stadtbekannte Bankier habe mit dem Rückgriff auf das antike griechische Erbe auch bewusst einen kulturellen Raum schaffen wollen, in dem seine jüdischen und nicht jüdischen Gäste gemeinsam feiern konnten.
Aufregen und anziehen
Ohne Karl Wittgenstein würde heute eine der wichtigsten Touristenattraktionen im Zentrum der Stadt fehlen: die Secession. Wittgenstein förderte den Architekten Olbrich und die Gruppe jener Künstler, die Neues wollten und sich vom Künstlerhaus lossagten. Der Stahlmagnat gab eine großzügige Anfangsfinanzierung und unterstützte die Künstler im neu gegründeten Verein. Shapira zeichnet nach, wie orientalische Anspielungen, etwa mit der goldenen Kuppel, an ein jüdisches Narrativ erinnern könnten - ähnlich wie bei den damals entstandenen Synagogen im maurischen Stil.

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Die Secession mit dem goldenen „Krauthappl“
Der Bau in unmittelbarer Nähe der historizistisch geprägten Ringstraße erregte jedenfalls Aufsehen, ja provozierte - so wie Wittgenstein selbst etwa als Geschäftsmann provozierte. Für Wittgenstein seien die Anspielungen auf den Orient daher wohl auch eine Kritik an der konservativen jüdischen Elite gewesen, die versuchte, die nahöstlichen Wurzeln zu verbergen, so Shapira.
Aufregen und ausziehen
Während Wittgenstein auf Provokation durch seine Unterstützung eines modernen Gebäudes mit eindeutig orientalischer Referenz setzte, trug Goldman gemeinsam mit Loos den provokanten Bruch mit Traditionen eine Stufe höher: Beim Bau der neuen Firmenzentrale für den mondänen Herrenausstatter Goldman & Salatsch spiegelt der untere Teil mit italienischen Prachtmarmorsäulen das Ambiente am Michaelerplatz - insbesondere die Hofburg - noch auf moderne Art.
Buchhinweis
Elana Shapira: Style and Seduction. Jewish Patrons, Architecture and Design in Fin de Siecle Vienna. Brandeis University Press, 314 Seiten, 36 Euro.
Doch der obere Teil des Gebäudes wurde richtiggehend ausgezogen - und legte damit die mit Nacktheit verbundenen Schamgefühle in der Gesellschaft offen. Loos und Goldman spielten laut Shapira ganz bewusst mit der öffentlichen Aufregung und der „Drohung, ein Gebäude nackt zu lassen, das im Zentrum der Stadt und gegenüber der Hofburg steht und einem jüdischen Bauherrn gehört“. Loos’ Haus habe damit - so wie Goldmans Kleidung - ein Gefühl neuer männlicher Leichtigkeit dargestellt.
Rolle als moderne Identität
„Es ist integraler Teil der Moderne, dass man sich selbst neu erfindet, eine eigene Identität erschafft, in der man sich wohlfühlt“, so Shapira. Das habe heute wie damals nicht nur für Juden gegolten. Doch keine andere Gruppe habe angesichts des weit verbreiteten Antisemitismus in Wien um 1900 diese Möglichkeit dringender gebraucht - und die Chance besser genützt.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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