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„Unfassbare Volumina“ fast ohne Personal

Früher oder später hätte sich wohl auch der tägliche Einkauf nicht der umfassenden Industrialisierung der Welt entziehen können. Trotzdem hat das Konzept mit dem US-Selfmademan Clarence Saunders einen eindeutigen Vater und ein klar festzumachendes Geburtsdatum obendrein: Vor über 100 Jahren, am 6. September 1916, öffnete in Memphis im US-Bundesstaat Tennessee der erste Supermarkt der Geschichte.

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Für das Konzept musste Saunders nur aus seinem eigenen Leben schöpfen: Er begann sein Arbeitsleben als 14-jähriger Greißlergehilfe und verdingte sich dann als Fließbandarbeiter. Was lag also näher, als diese beiden Elemente - über Karrierestationen als Vertreter und Teilhaber einer Großhandelsgenossenschaft - miteinander zu verbinden? Saunders stampfte aber nicht nur den ersten Supermarkt der Welt aus dem Boden, sondern gleich auch die endgültige Version des Konzepts.

Geburtsstunde des modernen Marketings

Alles, was zum modernen Supermarktstandard gehört, hatte Saunders für seinen Selbstbedienungsmarkt schon festgelegt: Einkaufskörbe am Eingang, einen Parcours, der Kunden möglichst an jedem einzelnen Produkt vorbeiführt, die Platzierung der einträglichsten Produkte mit den größten Spannen in Augenhöhe, die Vorräte gleich über dem jeweiligem Platz im Regal und enge Ausgangsbereiche, damit niemand ohne Einkauf entwischen kann.

Patentskizze

Public Domain

Auf Saunders’ Patent sind die Vorratsregale über den Verkaufsregalen deutlich erkennbar. Saunders machte sich noch die Mühe, diese dezent abzudecken.

Der 6. September kann außerdem als Beginn modernen Produktmarketings gelten, beginnend mit dem Nonsense-Namen „Piggly Wiggly Store“. Befragt, was der Name zu bedeuten habe, antwortete Saunders einmal: „Damit Leute genau diese Frage stellen“, in anderen Worten: Hauptsache im Kopf der Leute bleiben, egal womit. Auch Hersteller mussten sich anpassen: Verkaufen ließ sich ab nun nur noch, was durch die Verpackung Lust auf den Kauf machte.

Patentskizze

Public Domain

Alles da, von Anfang an: Saunders’ Patent für Grundrisse von Supermärkten

Opfer von Merrill Lynch

Dass es ein neues Wort für die neue Art von Geschäften brauchen würde, war Saunders klar. Die Wortschöpfung war zugleich der einzige Flop an dem Konzept: Die „grocerteria“, ein Kunstwort aus Greißler (grocer) und Kantine (cafeteria) setzte sich nicht durch. Statt „Greißlerine“ sagt wie auf der ganzen Welt auch in Österreich jeder „Supermarkt“, obwohl damit ursprünglich nur die größten unter den Selbstbedienungsgeschäften gemeint waren.

Abgesehen vom Namen schlug die Idee aber ein. Saunders reagierte prompt mit der Patentierung seiner Idee, doch die Imitatoren hatten sich schon quer durch die USA ausgebreitet. Saunders war allerdings der Branchenzampano: 1922 hatte er 1.200 Supermärkte in 29 US-Bundesstaaten und ging an die Börse. Das war der Anfang vom Ende. In einer heute undenkbaren Kursmanipulation von Merrill Lynch und Verbündeten an der Börse wurde er in die Pleite getrieben.

Mit Namen hatte er es nicht so

„Piggly Wiggly Stores“ gibt es noch heute in den USA, sie gehen aber auf Erben von Saunders’ ursprünglichen Franchise-Nehmern zurück. Saunders selbst kam nach der Pleite allerdings noch einmal auf die Füße, diesmal unter dem ebenso trotzigen wie sperrigen Namen „Clarence Saunders Sole Owner of My Name Stores“ (Clarence-Saunders-einziger-Inhaber-meines-Namens-Geschäfte). Für Marketing hatte er ein größeres Talent als für Namensfindungen: Zur Bewerbung der neuen Kette erfand er das Sportmarketing.

Ausstellungssücke aus dem Pink-Palace-Museums

Memphis Museums

Rekonstruktion des ersten „Piggly Wiggly Store“ im riesigen Stadtmuseum von Memphis, vormals Saunders’ Villa

Saunders erkannte das ungenutzte Werbepotenzial im Sport und stampfte selbst ein Football-Team aus dem Boden, die „Clarence Saunders Sole Owner of My Name Tigers“. Das erfolgreiche Team wurde allerdings in dem Moment fallen gelassen, in dem es zu Werbezwecken nicht mehr nötig war. Auch in dieser Hinsicht dürfte Saunders also offenbar ein letztgültiges Rollenmodell bis heute abgeliefert haben. Er ging mit seinen Ideen jedoch noch viel weiter, auch als ihn die Wirtschaftskrise 1929 ein zweites Mal ruinierte.

Entdecker der politischen Zeitungsannonce

Saunders ließ allerdings nicht locker, auch wenn seine Geschäftstaktiken immer verbissener wurden. Dabei scheute er auch nicht vor offener Beeinflussung politischer Vorgänge zurück - und ließ im Zuge dessen auch zum ersten Mal in der Geschichte politische Zeitungsanzeigen schalten, konkret für seinen Freund Austin Peay im Gouverneurswahlkampf von Tennessee. Nach zwei Amtszeiten hatte Saunders genug von Peay - und ruinierte ihn in einer Anzeigenkampagne voller Diffamierungen.

Clarence Saunders.

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Seinen letzten Ideen konnte der 1953 verstorbene Saunders nicht mehr zum Durchbruch verhelfen

Als Händler suchte Saunders in den Nachkriegsjahren weiter nach neuen Ideen. „Foodelectric“ etwa war nichts anderes als die Vorwegnahme der Selbstbedienungskassen, mit denen die Branche heute experimentiert, allerdings durch ein ausgeklügeltes Registriersystem ohne Möglichkeit zum Ladendiebstahl. Schon Saunders hatte erkannt, dass der Stress an der Kassa für die Kunden störend ist und man ohne Menschen an der Kassa „mit einer kleinen Belegschaft unfassbare Volumina abwickeln“ könne.

Wie NFC und RFID, aber mit Mehrwert

Noch weiter ging Saunders mit „Keedoozle“, einer Verballhornung von „Key does all“ (Schlüssel erledigt alles). Lange vor der Computerära vereinte er dabei über ein System von Lochkarten und bargeldlosen Shopping-Schlüsseln, die beim gewünschten Produkt ins Regal gesteckt werden mussten, die Produktwahl mit dem Bezahlvorgang. Im Vergleich zu heutigen Techniken wie Near Field Communication (NFC) und RFID-Chips gab es allerdings einen entscheidenden Unterschied: Am Ende kam der gesamte Einkauf bereits verpackt über ein Fließband zum Kunden.

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