Flaggenmeer auf Yenikapi-Platz
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat bei einer Großkundgebung gegen den Putschversuch vor drei Wochen die Einführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. „Wenn das Volk die Todesstrafe will, werden die Parteien seinem Willen folgen“, sagte Erdogan am Sonntag vor den auf dem Istanbuler Yenikapi-Platz versammelten Massen.
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„Ich sage es im Voraus, so eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren.“ Erdogan ging mit seiner Äußerung offenbar auf die Rufe von Demonstrationsteilnehmern ein, die lauthals „Todesstrafe“ skandierten. Der türkische Präsident hob überdies hervor, dass „die meisten Länder“ die Todesstrafe anwendeten. Auch in der Türkei sei die Verhängung der Todesstrafe noch bis 2004 möglich gewesen - auch wenn die letzte Hinrichtung im Land bereits 1984 stattgefunden habe.

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Erdogan vor den von ihm selbst geladenen Anhängern
Die Europäische Union hatte in den vergangenen Wochen wiederholt davor gewarnt, dass eine Einführung der Todesstrafe in der Türkei ein Ende der 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen bedeuten würde. Erst diese Woche hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker diese Haltung bekräftigt. Innerhalb der EU wird mittlerweile aber auch darüber diskutiert, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara unabhängig von der Todesstrafe einzustellen.

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Die rund 60 Meter lange Bühne wurde eigens für die „historische Versammlung“ gebaut
Keine Spur von Annäherung
Eine Annäherung Richtung EU suchte man in Erdogans Auftritt vergeblich - ganz im Gegenteil erneuerte Erdogan vor allem seine Kritik Richtung Deutschland. Hintergrund ist die vor einer Woche bei einer Demonstration in Köln verbotene Zuschaltung Erdogans per Video. „Wo ist die Demokratie?“, fragte Erdogan nun in Istanbul.
Den gescheiterten Putsch von Mitte Juli bezeichnete Erdogan vor seinen Anhängern als Meilenstein auf dem Weg zu einer stärkeren Türkei. Den „Feinden“ sei bewusst geworden, dass von nun an für sie alles schwieriger sein werde. „Wir werden ab jetzt sehr genau prüfen, wen wir unter uns haben.“ Das gelte für das Militär ebenso wie für die Justiz. Das Netzwerk des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Drahtzieher des Putschs hält, werde zerschlagen.
Premier will Gülen zur Rechenschaft ziehen
Auch Ministerpräsident und AKP-Chef Binali Yildirim nutzte seine Rede als Kampfansage gegen Gülen. „Ihr alle sollt wissen, dass der Anführer dieser terroristischen Gruppe in die Türkei kommen wird und dafür bezahlen wird, was er getan hat.“ Auch laut dem Chef der türkischen Streitkräfte, Hulusi Akar, sollen die „Verräter“ hinter dem Umsturzversuch auf härteste Weise bestraft werden.
„Historische Versammlung“
Auf „Einladung unseres Präsidenten und Oberbefehlshabers an unser Volk“, wie auf den Transparenten für die „Demokratie- und Märtyrer-Versammlung“ zu lesen war, kamen am Sonntag nach Berichten der Staatsmedien weit über eine Million Menschen zusammen. In mehreren Berichten war von rund drei Millionen, bei der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sogar von rund fünf Millionen Teilnehmern die Rede. Während Beobachter Zweifel an dieser Zahl äußerten, stand für die Zeitung „Hürriyet“ dennoch fest, dass es sich um eine Veranstaltung „historischen“ Ausmaßes handelte.
Signal für Demokratie vs. Machtdemonstration
Ist die Großkundgebung in der Türkei ein Fest für die Demokratie oder ist es eine Machtdemonstration von Präsident Erdogan? Dazu ist ORF-Korrespondent Jörg Winter aus Istanbul zugeschaltet.
Der unbestrittene Hauptdarsteller auf der eigens errichteten, rund 60 Meter langen Bühne war Erdogan, der bei seiner Ankunft vom staatlichen Sender TRT als „Anführer, der in seine Flagge und sein Vaterland verliebt ist“ gepriesen wurde. Erdogan, der zusammen mit seiner Frau Emine Gulbaran öffentlichkeitswirksam per Helikopter zum Veranstaltungsort kam, nahm zu Beginn ein Bad in der Menge. Menschen umarmten den Präsidenten und schossen Selfies mit ihm.
2,5 Millionen Flaggen vorbereitet
Yildirim hat für die „überparteiliche“ Demonstration Parteiflaggen untersagt, um eine Veranstaltung über Parteigrenzen hinweg zu ermöglichen. Gleichzeitig rief der Premier auf, die Landesflagge zu zeigen. Die Behörden haben Medienberichten zufolge 2,5 Millionen Nationalflaggen für die Großkundgebung vorbereiten lassen. Unmittelbar vor der Bühne wurden drei große Flaggen gehisst - auch sie sollten Einheit signalisieren: in der Mitte die türkische Flagge, links davon eine mit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, rechts das Konterfei Erdogans.

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Erdogan bei seiner Ankunft auf dem Versammlungsgelände
Die Großkundgebung wurde seit Tagen intensiv beworben. Ein Plakat zeigte einen Zivilisten, der mit erhobener Hand einen Putschistenpanzer stoppt. Rund 15.000 Polizisten wurden in der Bosporus-Metropole mobilisiert, um die bisher größte Massendemo nach dem gescheiterten Putschversuch abzusichern. Der öffentliche Nahverkehr brachte die Teilnehmer unentgeltlich zum Versammlungsort, auch ein Taxi-Vermittlerdienst bot Gratisfahrten an.
Zahl der getöteten Putschisten bleibt offen
Die Veranstaltung soll den Abschluss einer langen Reihe von Kundgebungen gegen den Umsturzversuch und für die Demokratie bilden. Erdogan hatte seine Anhänger in der Putschnacht des 15. Juli auf die Straßen gerufen, um sich den Putschisten entgegenzustellen. Seitdem gab es in Istanbul und Ankara jeden Abend Kundgebungen.
Bei dem gescheiterten Umsturzversuch waren mindestens 273 Menschen getötet worden, darunter nach Darstellung der Regierung 239 „Märtyrer“, also Zivilisten und regierungstreue Sicherheitskräfte. Für ihre Angehörigen gab es bei der Kundgebung Ehrenplätze. Zur Zahl der getöteten Putschisten macht die Regierung seit Längerem keine Angaben mehr. Zuletzt war in dem Zusammenhang von 24 Toten die Rede gewesen.
13.000 in U-Haft
Zu der Veranstaltung drei Wochen nach der Niederschlagung des Putsches kamen auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-links-Partei CHP und der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli. Nicht eingeladen wurde die prokurdische HDP. Erdogan wirft der zweitgrößten Oppositionspartei im Parlament Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vor.
Seit dem Putschversuch sucht Erdogan den Schulterschluss mit der CHP und der MHP. Zugleich geht die Regierung hart gegen Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen vor, den Erdogan für den Umsturzversuch verantwortlich macht. Nach Regierungsangaben wurden mehr als 60.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen. Mehr als 13.000 Verdächtige sind in Untersuchungshaft.
AKP sucht Schulterschluss mit Opposition
Die Regierung lud auch die Oppositionsparteien CHP und MHP ein, die kurdische HDP dagegen wurde nicht zu der Kundgebung gebeten. Der Anführer der nationalistischen MHP, Devlet Bahceli, sagte umgehend seine Teilnahme zu. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu dagegen willigte erst nach einigem Zögern ein. Die Kundgebung auf dem Yenikapi-Platz wurde im Fernsehen sowie auf Großleinwänden in allen türkischen Provinzen übertragen.
Seit dem Putschversuch sucht Erdogan den Schulterschluss mit der CHP und der MHP. Zugleich geht die Regierung hart gegen Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen vor, den Erdogan für den Umsturzversuch verantwortlich macht. Nach Regierungsangaben wurden mehr als 60.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen. Mehr als 13.000 Verdächtige sind in Untersuchungshaft.
Besuch bei „Freund Wladimir“
Das angespannte Verhältnis zu Russland will Erdogan unterdessen bei einem für Dienstag in St. Petersburg angesetzten Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wieder kitten. „Es wird ein historischer Besuch, ein Neuanfang. Bei den Gesprächen mit meinem Freund Wladimir wird eine neue Seite in den beiderseitigen Beziehungen aufgeschlagen“, sagte Erdogan am Sonntag nach Angaben der Agentur TASS in Ankara vor seinem Flug nach Istanbul.
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