Wildheit muss keine Metapher sein
In „Wild“, dem neuen Spielfilm von Nicolette Krebitz, holt sich eine junge Frau einen Wolf in die Wohnung mitten im Plattenbau in Halle-Neustadt. Es kommt zu Beziehungsszenen und anderen Ereignissen, an die sich ein deutscher Film so noch nicht gewagt hat.
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Das Wichtigste zuerst: Der Wolf, um den es in Krebitz’ neuem, dritten Spielfilm „Wild“ geht, ist echt. Kein computeranimierter Bär wie etwa jener, gegen den Leonardo DiCaprio in „The Revenant“ („Der Rückkehrer“) vortäuschte zu kämpfen, sondern ein ungarisches Tier, oft eingesetzt für Dreharbeiten. Er spielt die Hauptrolle neben Ania (Lilith Stangenberg), einer jungen Frau Mitte 20, die in Halle-Neustadt wohnt, aber eigentlich nie wirklich da ist.
Man sieht sie zu Beginn des Films mit ihrer Schwester Jenny (Saskia Sophie Rosendahl) skypen, während deren Freund im Hintergrund beginnt, sie zu befummeln und Jenny dabei mitmacht, als wäre Ania unsichtbar. Morgens verlässt Ania ihre Wohnung in einer großen Plattenbausiedlung, ohne auf Nachbarn zu treffen. Und in dem IT-Büro, in dem sie vor Kurzem angefangen hat, zu arbeiten, knallt ihr Chef Boris (Georg Friedrich) einen Tennisball hart an die Trennwand zwischen seinem Büro und ihrem Sitzplatz, wenn er einen Kaffee möchte.

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Lilith Stangenberg als Ania, Georg Friedrich als Boris
Menschen, die auf Wölfe starren
Manchmal geht Ania nach der Arbeit noch in die Schießanlage, wo sie Löcher reißt, die keine Spuren hinterlassen. Später steigt sie aus dem Bus, der etwas außerhalb der tristen Siedlung hält, direkt vor einem Stück ungepflegten Brachlandes, das an einen kleinen Wald grenzt. Auf der letzten Trittbrettstufe hebt sie den Kopf immer ein wenig, um den Weg zurück zu finden, den sie ohnehin auswendig kennt.
An einem Abend hängt die Luft voll mit feuchter Kälte, und gerade als Ania blind weitergehen will, sieht sie am Waldesrand ein Wesen stehen. Einen Wolf, der sie anblickt und in diesem Blick ganz starr verharrt, so wie sie selbst, als fließe zwischen ihnen ein unsichtbares Band aus Starkstrom. Es ist ein Bild, das fast vibriert, vielleicht das beste des ganzen Films, weil in ihm noch alle Möglichkeiten liegen, die Krebitz nun durchzuspielen beginnt. Das wird ein Wagnis - aber das soll es auch sein.
Das Spüren an sich
Am nächsten Morgen fühlt Ania sich anders als sonst. Sie will „ihn“ wiedersehen, sie will „ihm“ nah sein. Am Vortag hatte sie plötzlich etwas gespürt, das sie noch nicht kannte. Es ist das Spüren selbst, das Ania so fremd ist. Sie scheint zu sensibel für die Zumutungen des modernen Lebens. Schnelligkeit ringsum lässt sie langsamer werden.
Im stickigen Büro von Boris, in dem der Polyester-Teppich den ganzen Sauerstoff schluckt, hebt sie den Kopf in den dünnen Sonnenstrahl und den leichten Wind, der durchs gekippte Fenster dringt. Das klingt zwar nach Zurück-zur-Natur-Kitsch, aber die ätherische Lilith Stangenberg spielt Ania mit einer intensiven inneren Unruhe, die in ganz kleinen Etappen erst langsam in ihr Äußeres sickert.

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Ania und ihr Nicht-Leben, in dem das Schießen ein Highlight ist
Er geht ihr nicht durch die Lappen
Ania ist unempfänglich für das sexuelle Begehren des Menschen Boris. Dafür lockt sie den Wolf. Zuerst mit edlem, teurem Fleisch aus dem Supermarkt, das sie an einen Ast hängt und das er verschmäht. Dann mit einem putzigen Kaninchen, das sie ihm zum Jagen offeriert. Auch das will er nicht. Ania beginnt zu verstehen, und es kommt zur wirkmächtigsten Szene des Films: Der Wolf soll ihr nicht durch die Lappen gehen, also sucht Ania sich ein Rudel.
Gegen Bezahlung. Für 100 Euro verbringen ein paar junge asiatische Arbeiterinnen in einer Altkleidersammlung nachts ein paar Stunden mit Ania, um Stofffetzen zu reißen, mit denen der Wolf später eingekesselt werden soll. Die Lappjagd gelingt, Ania sperrt den Wolf in ihre Wohnung. Jetzt passiert aber nicht etwa eine Domestizierung des Wilden, sondern Anias Annäherung an das Tier. Diese Annäherung zwischen Ania und dem Wolf ist nicht nur ein Tabubruch, sondern ein geistiges Experiment. Nicht immer ist klar, wie wörtlich Krebitz meint, was sie zeigt oder wann etwas als Metapher zu verstehen ist. Auch das gibt dem Film eine traumähnliche Qualität.

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Eine vorsichtige Annäherung
Keine Rebellion
Ein Traum - ausgerechnet in Halle-Neustadt. Wohnsilos, Tristesse, bei Krebitz ergibt das eine Trabantenstadt, wo sich namenlose Straßenzüge aneinanderreihen wie die anonymen Fahrgäste im Bus und die austauschbaren Mitarbeiter in Anias Büro. Hier gibt es gar kein Konzept von Gesellschaft, das Ania groß umstoßen könnte. Ihr Großvater, der seit einiger Zeit im Krankenhaus liegt und von dort wahrscheinlich nicht mehr zurückkommen wird, war noch der letzte Funken Familie. Auch dagegen rebelliert Ania mit ihrem Rückzug nicht.
Ania ist auf der Suche. Krebitz setzt das nicht archaisch um, wie etwa Claude Faraldo in „Themroc“. Sie steht auch nicht ganz in der radikalen Tradition von Claire Denis oder Chantal Akerman. Vielmehr bereitet sie Anias Übergangsritus vor, wie ein mehrstimmiges Gedicht, ein Bestiarium des Sinnlichen.
Traumwandlerisch das Geländer runterrutschen
Einmal lässt sie den Wolf eine Wand durchbrechen, ein anderes Mal bereitet ihm Ania ein Frühstück zu aus Rühreiern und Cola. Mit Fantastik und Satire innerhalb eines Films zu jonglieren ist nicht einfach, doch Krebitz geht auch hier noch weiter: Reinhold Vorschneiders Kamera muss ebenfalls wendig sein und einmal mit Ania wie zwischen ihren Beinen das glatte Plastiktreppengeländer im Stiegenhaus hinunterrutschen.
Besonders deutlich wirkt speziell diese Szene wie ein Austesten unsichtbarer Grenzen von Körper und Gesellschaft – sowohl für Ania als auch für Krebitz. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit löst sich zudem allmählich auf. Wobei Krebitz keinen Wegweiser bietet: Die Filmbilder konstatieren, was sie zeigen.

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Die Grenzen zwischen Tier und Mensch heben sich auf
Der schmale Grat zum Voyeurismus
Überhaupt, die Bilder: Was Vorschneiders Kameraarbeit erzeugt, wirkt wie ein Nachhorchen von Zusammenhängen. Manchmal will man die Augen zusammenkneifen, um besser durchzusehen: Regentropfen, Nebel, eine ungefähre Dunkelheit lassen Klarheit absichtlich nur in Spuren übrig. Fährten, vielleicht. Der Blickwinkel gehört selten Ania selbst, meistens ist sie es, die beobachtet wird.
Um Voyeurismus geht es Krebitz dabei nicht. Ebenso wenig um sexuelle Zuschreibungen. Selbst dann nicht, wenn der Wolf Anias Menstruationsblut von ihren Schenkelinnenseiten leckt und sie in Ekstase gerät. Es ist ein Angstlusttraum. Oder etwa doch nicht? Man muss vielleicht ein ganz kleines bisschen verrückt sein, um wie Krebitz mit einem echten Wolf zu drehen - und um sich wie Stangenberg darauf einzulassen. Drei Wochen lang haben sie einander „kennengelernt“ und auch tatsächlich unter anderem gemeinsam Brackwasser geschlabbert, wie es im Film einmal vorkommt.
Umgekehrte Vorzeichen
In seiner metaphorischen Bedeutung kann das Tier im Film vom Freund bis zum Helden so ziemlich alles sein - vor allem auch ein seelischer Unruhestifter, der mit menschlichen Ängsten und Sehnsüchten spielt. Interessant ist, dass genau diese Funktion immer öfter von Maschinen, also von Materie übernommen wird. Roboter zum Beispiel werden in vielen Fällen nicht menschenähnlicher, sondern tierähnlicher: Mit dem äußeren Erscheinungsbild eines Haustiers zum Beispiel kehren sie den Boden. Oder sie sehen in Action-Filmen aus wie metallen-sehnige Raubtiere. Der „ewige Kampf von Mensch und Tier“ setzt sich also im Kampf der Maschinen mit den Menschen fort. Das Tier und der Mensch entfremden sich so nur noch mehr.
Es ist auch diese Entfremdung, der Ania nachspüren will. Sie sucht nicht vordergründig sich selbst. Sie sucht eine Möglichkeit, sich womöglich aufzulösen. Das ist die wahre Dystopie in diesem Film, nicht eine Zivilisation, die an Verrohung zerbirst, nicht die Gesellschaft, die durch Unmenschlichkeit zerbricht. Sondern: eine junge Frau, die spüren will und der dafür die reale Bedrohung, verletzt zu werden, zur Geborgenheit gerät.
Alexandra Zawia, ORF.at
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