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Was passiert, wenn nichts passiert?

„Ein Mitgliedsstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit“, heißt es in Artikel 50 des EU-Vertrags lapidar. Erst mit dieser Mitteilung startet das Austrittsprozedere eines Landes aus der Europäischen Union. Die Briten haben in dem Referendum am Donnerstag für den „Brexit“ gestimmt, Premier David Cameron machte allerdings keine Meldung an die EU. Das heizt Spekulationen an - und sorgt für Unmut in der EU.

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Eigentlich war erwartet worden, dass der britische Premier am Freitag umgehend die Nachricht an Brüssel schickt. Stattdessen erklärte er seinen Rücktritt bis Oktober. Erst sein Nachfolger solle dann entscheiden, „wann Artikel 50 ausgelöst wird und der formale und juristische Prozess des Verlassens der EU beginnt“.

EU-Spitze ungeduldig

Die EU-Spitze aus Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dem Ratsvorsitzenden Donald Tusk und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz verlangte am Freitag in einer gemeinsamen Erklärung, dass die Austrittsverhandlungen „so schnell wie möglich“ begonnen werden. Denn aus ihrer Sicht würde „jede Verzögerung die Unsicherheit unnötigerweise verlängern“.

„Ein Zögern, nur um der Parteitaktik der britischen Konservativen entgegenzukommen, schadet allen“, sagte Schulz der „Bild am Sonntag“. Eine lange Hängepartie führe „zu noch mehr Verunsicherung und gefährde dadurch Arbeitsplätze“. „Deshalb erwarten wir, dass die britische Regierung jetzt liefert. Der Gipfel am kommenden Dienstag ist hierfür der geeignete Zeitpunkt.“ Selbiges will auch das Europaparlament fordern, wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ unter Berufung auf einen Entschließungsantrag berichtet.

„Großbritannien entscheidet Zeitpunkt“

Cameron macht aber keine Anstalten, am Dienstag beim EU-Gipfel die Hiobsbotschaft zu überbringen. Der britische Außenminister Philip Hammond stellte am Sonntag klar, nur Großbritannien habe das Recht, über den Zeitpunkt des Antrags auf Austritt zu entscheiden. Nur wenn es einen Nachfolger für Cameron gebe, würden Gespräche beginnen, sagte Hammond. Auch andere britische Politiker, selbst jene des „Brexit“-Lagers, haben keine Eile, den Loslösungsprozess in Gang zu bringen.

Juristische Spitzfindigkeiten

In EU-Kreisen bereitet man sich schon auf juristische Spitzfindigkeiten vor: Wenn Cameron den Gipfel wie vorgesehen über das Ergebnis des Referendums informiere, könne das von EU-Seite womöglich als Austrittserklärung gewertet werden, sagte der emeritierte Rechtsprofessor Derrick Wyatt von der Universität Oxford dem britischen Rundfunksender BBC. „EU-Anwälte könnten dem Rat empfehlen, dass eine solche Bestätigung oder derartige Gespräche alleine genügen, um Artikel 50 auszulösen.“ Auch die Idee, das Referendum an sich als Mitteilung zu werten, wurde bereits geäußert.

Die Erklärung der Austrittsabsicht sei „ein formaler Akt“, sagte hingegen ein EU-Ratssprecher. „Sie muss unmissverständlich und in der Absicht erfolgen, Artikel 50 auszulösen.“ Die bloße Information des Gipfels über das Ergebnis der Volksabstimmung durch Cameron würde damit aus Sicht des Rates nicht ausreichen.

Tritt der „Brexit“ nie in Kraft?

In britischen Medien wird nun spekuliert, welche Folgen die Weigerung Camerons haben könnte. Der Premier überreiche eine Art Schierlingsbecher an seinen Nachfolger, schreibt der „Guardian“. Wer auch immer als Premier die Hiobsbotschaft an die EU überbringt und damit den Austritt mit seinen enormen - und vor allem negativen - Folgen für Großbritannien besiegelt, begehe damit wohl politischen Selbstmord.

Sollte ein „Brexit“-Befürworter wie Boris Johnson den Premier beerben, könne sich dieser umgekehrt auch nicht weigern, der EU den Austritt zu melden. Johnson sei damit eigentlich schachmatt gesetzt, heißt es in einem Userkommentar des „Guardian“, der in den Sozialen Netzwerken die Runde macht.

Mittlerweile kursieren auch Hoffnungen, der „Brexit“ könnte einfach nie in Kraft treten. Je länger die Meldung nicht erfolgt, desto größer sei die Chance, dass sie nie erfolgt, schreibt der Journalist David Allen Green in seinem Blog. Austrittsgegner erinnern daran, dass Referenden in Großbritannien rechtlich nicht bindend sind.

Johnson will weiter Zugang zu Binnenmarkt

Unterdessen geht Johnson davon aus, dass Großbritannien auch künftig Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben wird. „Es wird weiterhin freien Handel und Zugang zum Binnenmarkt geben“, schrieb Johnson in einem Beitrag für die Zeitung „Daily Telegraph“. Johnson schrieb weiter, es bestehe „keine große Eile“ für das Vereinigte Königreich, seinen Austritt aus der EU zu erklären. Details nannte Johnson nicht. Die negativen Folgen eines Austritts aus der EU würden „weit übertrieben“, schrieb Johnson.

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