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Parteien in schweren Turbulenzen

Während die Folgen des „Brexit“-Votums für die EU und Großbritannien noch nicht absehbar sind, bleiben die beiden großen britischen Parteien vor allem mit sich selbst beschäftigt. Bei den regierenden Torys bringen sich die Kandidaten für die Nachfolge des scheidenden Parteichefs und Premiers David Cameron in Stellung. Bei der Labour-Partei ist ein offener Streit über die Parteilinie ausgebrochen.

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Nach der Rücktrittserklärung Camerons spekulieren Medien, ob er tatsächlich noch bis zum Herbst im Amt bleiben kann, oder schon früher ausscheidet. Seiner Partei würde das wohl einen monatelangen Machtkampf ersparen, der schon jetzt ausgebrochen ist.

Prominenter Rückhalt für Johnson

Als Favorit gilt Boris Johnson, ehemaliger Bürgermeister Londons: Er war die Galionsfigur des „Brexit“-Lagers und schlüpfte in diese Rolle, um sich als Herausforderer des Premiers zu positionieren. Unterstützung erhielt Johnson von Justizminister Michael Gove, der ebenfalls als Kandidat gehandelt wurde. Er habe dem früheren Londoner Bürgermeister seine Unterstützung zugesagt, berichtete die „Sunday Times“ am Sonntag.

Boris Johnson

APA/AFP/Mary Turner

Johnson selbst ist seit dem Referendum auffällig schweigsam

Das Parteischwergewicht Iain Duncan Smith sagte, der neue Parteichef sollte aus dem Lager der Austrittsbefürworter kommen. Duncan Smith hatte für den „Brexit“ geworben und war deshalb im März als Minister für Arbeit und Pensionen zurückgetreten.

Johnson-Gegner machen mobil

Die Torys scheinen aber zerrissen, auf der anderen Seite stehen die „Brexit“-Gegner. Von einem „Stop Boris“-Lager schreibt der „Guardian“. Dieses dürfte sich wohl rund um Innenministerin Theresa May sammeln, die als wahrscheinlichste Gegenkandidatin für den Parteivorsitz gilt. Britische Medien werfen allerdings zahlreiche andere Namen in den Ring, etwa Bildungsministerin Nicky Morgan und den Minister für Arbeit und Pensionen, Stephen Crabb. Auch Finanzminister George Osborne könnte Chancen haben.

Auflösungserscheinungen bei Schattenkabinett

Viel offener ist der Machtkampf bereits bei den Sozialdemokraten: Elf Mitglieder - und damit mehr als die Hälfte - des Schattenkabinetts traten am Sonntag von ihren Posten zurück, um den Druck auf Corbyn zu erhöhen. Sie werfen ihm mangelndes Engagement im „Brexit“-Wahlkampf vor. Am Montag setzte sich die Austrittswelle fort. Mindestens acht weitere Labour-Politiker folgten ihren Kollegen, die bereits am Tag zuvor aus Protest gegen Corbyn ihren Rücktritt erklärt hatten.

Corbyn hatte in der Nacht zum Sonntag einen seiner schärfsten Kritiker aus dem Schattenkabinett entlassen. Hilary Benn, einer der angesehensten Labour-Abgeordneten, hatte dem Parteichef Führungsschwäche vorgeworfen und bezweifelt, dass die Partei mit Corbyn an der Spitze eine Neuwahl in den kommenden Monaten gewinnen könne. Berichten zufolge soll der Schattenaußenminister in der Fraktion gegen den Labour-Chef paktiert haben.

Corbyn schloss bisher trotz der Kritik einen Rücktritt aus. Er reagierte bereits auf einige Rücktritte mit Nachbesetzungen. Aufgerückt etwa in den Bereichen Außen- und Verteidigungspolitik sind klare Unterstützer des Oppositionsführers aus dem linken Flügel von Labour.

Halbherziger Pro-Europa-Kurs

Wahlanalysen hatten ergeben, dass viele Labour-Hochburgen vor allem in Nordengland für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatten. Corbyn hatte den Ausstieg aus der EU nur halbherzig bekämpft.

Wenige Tage vor dem Referendum sagte er bei einem TV-Auftritt: „Ich bin kein Liebhaber der Europäischen Union“, er plädiere aber für „Drinbleiben“. Corbyn fügte hinzu: „Wenn wir in der EU bleiben, muss sie sich dramatisch ändern.“ Beim britischen EU-Referendum 1975 hatte Corbyn gegen den Beitritt gestimmt.

Krisensitzung am Montag

Am Montagabend wollen die Labour-Abgeordneten zusammentreffen, um die Führungsfrage zu erörtern. Zwei Labour-Abgeordnete legten einen Misstrauensantrag gegen Corbyn vor. Labour droht damit auch ein Streit zwischen Parteispitze und Basis. Sägt der Führungskreis der Partei den Chef ab, wäre das ein Affront, schließlich war Corbyn erst im Spätsommer 2015 nach einer Urwahl aller Parteimitglieder und Sympathisanten an die Labour-Spitze gehievt worden.

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